Kolumne

Traumhaft

„Träume und Gedanken kennen keine Schranken“, besagt ein Sprichwort, und – Hand aufs Herz – wer kann von sich behaupten, niemals zu träumen? Der spanische Dichter Pedro Calderón de la Barca betitelte in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sein Drama über den freien Willen und das Schicksal mit „La vida es sueño“: Das Leben ist ein Traum. Damals und Jahrhunderte zuvor galt der Traum als eines der ungelösten Rätsel der Menschheit: Warum träumen wir? Woher kommen die Bilder und Szenen der Nacht? Und was bedeuten diese Träume? Erst Sigmund Freud ebnete die Wege, diese Rätsel zu dechiffrieren. Er begründete die Erforschung des Unbewussten und die Traumdeutung, die um die Wende zum 20. Jahrhundert das Bild vom Menschen grundlegend veränderten. Heute kennt die Wissenschaft die unterschiedlichsten Arten von Träumen: vom Albtraum über den Tagtraum bis hin zum Klartraum, in dem der Traumreisende sein Erleben selbst steuern kann. Träume gelten als überlebenswichtig für Körper, Geist und Seele, und wir wissen: Wer seinen Träumen freien Lauf lässt, kann regenerieren, neue Kraft schöpfen und ganz nebenbei seine Gedanken ordnen.

Sicher ist, dass man zum Träumen nicht notwendigerweise schlafen muss. Doch der Traum und seine größeren und kleineren Geschwister sind durchaus nicht immer positiv besetzt: Verträumt wird genannt, wer wach, aber mit den Gedanken nicht da ist, wo er vielleicht sein sollte (obwohl die inneren Welten vermutlich die wichtigeren für ihn sind). Träumereien von geheimen Wünschen, persönlichen Zielen oder gar einem anderen Leben werden schnell als realitätsfern abgetan. Doch warum eigentlich? Gerade in Zeiten wie unseren, in denen die Freiheit ebenso eingeschränkt scheint wie der Aktionsradius, ist Träumen ein Weg, sich seiner Wünsche zu vergewissern und dem persönlich Wesentlichen näherzukommen. Träume sollten deshalb keinesfalls vor der Wirklichkeit kapitulieren (und ruhig auch Gesprächsthema sein): Der kraftvolle, neue Realitäten evozierende Traum von Martin Luther King zum Beispiel ging mit seiner Rede „I have a dream“ in die Geschichte ein.

Schließlich gelten Träume als tatsächliche Erfahrungsräume, die Quellen von Inspiration und Kreativität sind. „Denken ist die Arbeit des Intellekts, Träumen sein Vergnügen“, betonte Victor Hugo. Und dieses Vergnügen hat zu allen Zeiten Künstler zu Meisterwerken inspiriert. Zuvorderst kommen natürlich die albtraumhaften Szenarien von Salvador Dalí (der im Übrigen Sigmund Freud in London besuchte) oder von Francisco de Goya in den Sinn. Doch der Traum hat auch in der Kunst viele zauberhafte Facetten, die von Mut, Schönheit, Liebe und Leichtigkeit künden: Piero della Francescas Kaiser Konstantin in Arezzo, dem der Legende nach im Traum ein Kreuz erschien, bevor er mithilfe des Zeichens Christi in der Schlacht an der Milvischen Brücke siegte. Später entstand Correggios Venus, die – begleitet von einem Amor und einem Satyr – offenbar Wunderbares träumt. Caspar David Friedrichs Träumer, elegant mit dunklem Gehrock und hohem Kragen, hat bei Sonnenuntergang im Fenster einer Klosterruine Platz genommen, Pablo Picasso verewigte seine geliebte Marie-Thérèse Walter als Träumende in La Rêve. Und nicht zuletzt ist da der malende Träumer Marc Chagall, dessen Szenerien weder Schwerkraft noch Logik kennen …

Träume haben also durchaus die Kraft, das Leben zu verändern. „Wer träumt, sollte von Großem träumen“, heißt es in Italien. Dem ist nichts hinzuzufügen.

In diesem Sinne: Ein traumhaftes Jahr 2022 wünscht

 

Dr. Sabine Burbaum-Machert

5 Kommentare
Kommentare einblenden

Profile

Mitglied der boesner-Redaktion, verantwortliche Redakteurin von KUNST & material. Studium der Kunstgeschichte, Romanistik und Neugermanistik in Bochum und Siena. Mehrjähriger Forschungsaufenthalt an der Bibliotheca Hertziana in Rom; 1998 Promotion an der Ruhr-Universität Bochum.

Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte, Übersetzerin, Autorin und Redakteurin.

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: