Felix Scheinbergers Schule des Sehens ist auch ein Plädoyer gegen Ignoranz und Arroganz unseren tierischen Verwandten gegenüber
„Es ist fast so, als wäre die Kunst nur der Tiere wegen erfunden worden. Wir bilden Tiere ab, seit wir ein Stück Kohle in der Hand halten können. Seither begleiten uns gezeichnete Tiere, von prähistorischen Höhlenbildern bis zum modernen Comic.“ So leitet Felix Scheinberger sein Buch „Tiere zeichnen und verstehen“ ein und geht unter anderem der Frage nach, warum Menschen Tiere zeichnen.
In den fünf großen und über fünfzig kleineren Kapiteln des hochwertig aufgemachten Bandes erklärt der Zeichner und Illustrator seiner Leserschaft, wo man Tiere findet, wie Tiere funktionieren, wie man sie zeichnet und wodurch das Verhältnis von Mensch und Tier geprägt ist. Zahlreiche Bildbeispiele belegen die Aussagen und Hinweise im Text. Die Collagen und typisch Scheinberger’schen Feder-Wasserfarbe-Zeichnungen zeigen vielfältige Motive, reichen stilistisch von naturgetreu bis zur Karikatur und werten das Buch zu einem Künstlerbuch auf.
Tiere zeichnen bedeutet: Genau hinschauen. Bewegungen und Verhalten studieren. Anatomie verstehen. Texturen von Fell, Haut, Schuppen oder Schnäbeln erkennen. Eine Beziehung zum Tier aufzubauen. Dabei zählt nicht nur das Ergebnis, also das Tier-Porträt, sondern auch der Prozess der Annährung. In beidem liegt der Reiz. „Deshalb“, so Felix Scheinberger im Vorwort, „wird sich dieses Buch mit der Physiognomie und dem Körperbau der Tiere sowie mit ihrem Wesen beschäftigen, aber auch damit, was wir in ihnen sehen.“
Von süß bis eklig – Tiere lösen Emotionen aus. Sie sind unsere Begleiter, egal ob in Haus, Garten oder in freier Wildbahn. Wer sich einmal auf den Weg in die Welt der Tiere gemacht hat, den wird der Reichtum an Arten, die Vielfalt der Charaktere und die Faszination des Beobachtens nicht mehr loslassen. „Tiere zeichnen und verstehen“ erschließt somit auch einen Zugang zu un-seren Mit-Lebewesen.
In diesem Sinne ist die beim Verlag Hermann Schmidt erschienene Publikation von Felix Scheinberger kein klassisches Anleitungsbuch. „Ich werde Ihnen nicht verraten, wie Sie eine Katze in drei Schritten zeichnen können. Zum einen gibt es dafür bessere Bücher; zum anderen halte ich es für klüger, wenn Sie dafür Ihren eigenen Weg finden. Mir geht es darum, grundlegend Konstruktion und Systematik zu vermitteln, um viele verschiedene Tiere zeichnen zu lernen“, schreibt der Künstler selbst dazu.
„Tiere sehen und verstehen“ ist nicht nur eine Schule des Sehens, nicht nur ein Buch mit wertvollen Praxis-Tipps und Profi-Tricks zum Zeichnen von Tieren, sondern auch ein Plädoyer für ein respektvolleres Miteinander von Mensch und Tier. Denn Im Gegensatz zur Fotografie können wir nur zeichnen, womit wir uns intensiv beschäftigen, was wir wirklich verstanden haben. Wozu wir eine Meinung, eine Beziehung aufgebaut haben, im besten Fall eine wertschätzende. Zeichnen braucht Zeit. Das ist ein Wert in gehetzten Multitasking-Zeiten. Zeichnen geht nicht ohne Emotionen. Das verändert die Wahrnehmung unserer Mit-Lebewesen. „Gib dem Tier einen Namen“, empfiehlt Felix Schein-berger, denn Tiere sind Persönlichkeiten. In Zeichnungen fließt dieser Charakter, das Typische genau dieses Tieres mit ein. Zeichnend nehmen Sie Einfluss darauf, wie andere dieses Tier erleben. Sie treffen eine Aussage. Sie öffnen Augen. Ihre. Und die anderer.
Felix Scheinberger hat als Professor und Erfolgsautor schon vielen Kreativen die Angst vor dem weißen Blatt genommen und die vor der ersten Seite des funkelnagelneuen Skizzenbuchs. Er steckt weltweit mit seiner Zeichenfreude an. Führt niederschwellig ins Zeichnen ein. Gibt bewährte Tipps. Er schreibt mitreißend und weckt Zeichenlust. In diesem Buch aber steckt noch mehr. Als Felix Scheinberger begann, Tiere zu zeichnen, veränderte sich sein Verhältnis zu unseren Co-Kreaturen. Ähnlich wie Jonathan Safran Foer es in seinem Erfolgstitel „Tiere essen“ beschreibt, verlieren wir durch die Annährung an unsere Mit-Lebewesen die Blindheit und Ignoranz ihnen gegenüber. Wer einmal richtig hingeschaut hat, kann nicht mehr nicht sehen. Wer stundenlang ein Tier porträtiert hat, steht anschließend in einer Beziehung zu ihm.
„Tiere zeichnen und verstehen“ ist deshalb auch ein politisches Buch. Es ist ein Plädoyer gegen Ignoranz und Arroganz unseren tierischen Verwandten gegenüber. Und es öffnet uns die Augen – im wahrsten Sinne des Wortes.