Das Who’s Who der Collage-Technik — ein Überblick über die aktuelle Praxis
Die Collage ist eine facettenreiche Kunst aus Fragmenten. Seit ihren Anfängen bis zur heutigen digitalen Zeit steht sie für kreative Freiheit und experimentelle Ausdrucksformen. Indem unterschiedlichste Materialien und Medien vor allem durch Schneiden, Reißen, Kleben und digitale Manipulation kombiniert werden, entstehen vielseitige Werke.
Für Yuval Etgar, Experte für die Kunst der Collage, ist diese Technik, die seit der Erfindung des Papiers in vielen Kulturen traditionell vornehmlich im Handwerk angewendet wurde, „ein Synonym für Ärger“, denn sie ist von einer langen Geschichte von Handlungen geprägt, die Grenzen überschreiten: Schneiden, Zerreißen, Stehlen, Vertuschen, Vortäuschen … bei der Collage bedienen sich die Kunstschaffenden mit großer Selbstverständlichkeit der Arbeit anderer und fügen die Versatzstücke zu eigenen Werken zusammen. Das ist bis heute nicht unumstritten. Sicher hingegen ist: Die Collage bricht mit der Erwartung, dass Dinge vollständig und perfekt in einem Stück sein müssen.
Diese Eigenschaft nutzten erstmals die Künstler*innen des Kubismus, Dadaismus und Surrealismus, als sie im Europa des frühen 20. Jahrhunderts mit Medien wie Fotografie und Druckerzeugnissen zu experimentieren begannen und damit die traditionellen Bildherstellungstechniken erweiterten. Picasso, Georges Braque, Hannah Höch und Kurt Schwitters schufen dynamische und experimentelle visuelle Formen, die den Geist des modernen Lebens einfingen, indem sie buchstäblich Elemente des realen Lebens in sie einbauten.
Im 21. Jahrhundert arbeiten zahlreiche Collagenkünstler*innen nach wie vor mit den Techniken und Werkzeugen, die ein Jahrhundert zuvor zum Einsatz gekommen sind: Sie sammeln Elemente aus gefundenen, gedruckten Bildern und Ephemera, die dann physisch ausgeschnitten und zusammengeklebt werden, um etwas Neues zu schaffen. Das zeigen Künstler*innen wie Linder, Christian Marclay, Wangechi Mutu, John Stezaker, Mickalene Thomas oder Kara Walker.
Sie werden allesamt in Vitamin C+. Collage in Contemporary Art als führende Pioniere der Collage vorgestellt. Die englischsprachige Publikation aus dem Phaidon-Verlag stellt 108 zeitgenössische Kunstschaffende aus 40 Ländern vor, die die Collage als zentralen Bestandteil ihrer visuellen Kunstpraxis einsetzen. Die Auswahl erfolgte durch eine vielköpfige internationale Jury nach weit gefassten Kriterien, die von analogen Cut-and-Paste-Kompositionen und Fotomontagen bis hin zu digital komponierten Bildern und Animationen reichen. Daraus ist ein umfassender Überblick über die aktuelle Praxis der Collagetechnik entstanden, der von einem aufschlussreichen Text des Kurators und Kunsthistorikers Yuval Etgar eingeführt wird.
Neben namhaften Kunstschaffenden, die mit innovativen Arbeiten bereits Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, werden in dem Buch auch Werke weniger bekannter Künstler*innen vorgestellt, die größeres Augenmerk verdienen. Einige der Kunstschaffenden, die in Vitamin C+ in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt werden, haben die Collage zu politischen Zwecken eingesetzt, um auf soziale Missstände wie Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern oder Rassen, Klimawandel und Krieg hinzuweisen, so etwa Peter Kennard, Justine Kurland und Deborah Roberts. Andere interessieren sich mehr für das ästhetische Potenzial der Collage, indem sie Materialien mit unterschiedlichen Texturen, Mustern und Tiefen nebeneinanderstellen, um abstrakte und taktile Kompositionen zu schaffen, wie Njideka Akunyili Crosby, Dexter Davis und Georgie Hopton.
Heutzutage können Kunstschaffende wie Lorna Mills, Heather Phillipson und Tabita Rezaire auch digital arbeiten. Sie erzeugen am Computer Standbilder aus Fragmenten, die zunächst am Bildschirm arrangiert und anschließend gedruckt werden – oder sie fügen einzelne Elemente zu bewegten Bildern zusammen, die dann als Video oder Animation ausgegeben werden.
Vitamin C+ zeigt, dass die Collage mehr ist als eine einfache Technik des Ausschneidens und Einfügens von Papier, sondern vielmehr ein Ansatz zur Bedeutungsfindung. Die Praxis ist durch einen kontinuierlichen Prozess definiert, der die Grenzen des künstlerischen Spektrums und des visuellen Feldes herausfordert. Mit fragmentarischen Formen und unerwarteten Gegenüberstellungen ist Vitamin C+ eine frische, dynamische und unglaublich zeitgemäße Übersicht.