Ausstellung

Mobilmachung in Hannover

Das Sprengel Museum und der Kunstverein feiern Christiane
Möbus zum 75. Geburtstag mit einer Gemeinschaftsausstellung

Im Jakob-Kaiser-Haus des Deutschen Bundestages in Berlin veranschaulicht eine Installation von Christiane Möbus, dass Bewegung ein Grundprinzip ihrer Kunst ist. Auf und ab und unterwegs besteht aus vier Booten, die unter dem Hallendach aufgehängt sind. Jeder der vier Rennachter in den Farben Gelb, Rot, Blau und Schwarz schwebt abwechselnd abwärts und aufwärts, in einem individuellen, von einem Zufallsgenerator gesteuerten Impuls. Die einzige Konstante der Installation besteht darin, dass es keinen Stillstand gibt.

Alles im Fluss– das ist typisch für Christiane Möbus. Es könnte auch als Motto über der Doppelausstellung zu ihrem 75. Geburtstag stehen. In Hannover, einem ihrer beiden Wohnorte (der andere ist Berlin), haben das Sprengel Museum und der Kunstverein diese Hommage organisiert. Eine Auszeichnung, die mehr als verdient ist: Obwohl Christiane Möbus das Kunstgeschehen seit beinahe einem halben Jahrhundert mit ihren einfallsreichen und witzigen Objekten bereichert, hat sie nicht jenes internationale Renommee erlangt, das ihrem Œuvre angemessen wäre. Die Doppelausstellung mit dem poetisch-verrätselten Titel „Seitwärts über den Nordpol“ will das ändern. Bewegung ist auch hier Trumpf. Als Garanten der Mobilmachung figurieren im Sprengel Museum und im Kunstverein beispielsweise die LKW-Installation Schneewittchen, das aus 30 Postkarten bestehende Mississippi-Projekt, diverse Koffer, zwei (unbrauchbare) Rettungsboote sowie eine aus Hausrat bestehende Wanderdüne mit Globus. Skulpturen und Fotografien sind ebenso Bestandteil der Schau wie filmische und installative Arbeiten.

Vom frühen Expansionsdrang, der sogar Kontinente überschreitet, kündet im Sprengel Museum vor allem das Mississippi-Projekt. 1970 hatte Möbus ihr Studium an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Braunschweig beim Bildhauer Emil Cimiotti abgeschlossen. Mit einem DAAD-Stipendium ging die 23-Jährige nach New York. Während des Fluges sah die Künstlerin herab auf Eisberge im Atlantik. Was ihre Fantasie augenblicklich mobilisierte. Der Plan, die Eisgiganten nach Deutschland zu schleppen, war per definitionem undurchführbar. Realistischer das Vorhaben, eine Tour entlang des Mississippi in eine künstlerische Mission zu verwandeln. Auf einer großen USA-Karte sind 30 Postkarten angebracht, die Christiane Möbus von verschiedenen Orten verschickte. Die gewaltigen Dimensionen des „Old Man River“ und ihre Impressionen der Reise, festgehalten in kleinen, privaten Nachrichten, verschmelzen zu einem eindrücklichen Beitrag der Land Art.

Vielleicht darf man sogar pointiert formulieren, dass Christiane Möbus lebenslang auf Tour war. Als sie 2007 im Neuen Museum Nürnberg eine Solopräsentation zeigte, gab sie der Ausstellung den Titel „Auswanderer“, auf diese Weise signalisierend, dass Fortbewegung und Reisen Leitmotive ihrer Kunst sind. „Der Titel“, erklärte Möbus damals, „hat mit Bewegung zu tun. Ich liebe die Bewegung, weil sie ein Zeichen für etwas Lebendiges ist, und Wanderer sind die personifizierte Bewegung.“

Bewegung ist mithin eine Konstante in ihrem Schaffen. Die andere ist Poesie. Nicht nur die findigen, oft „um die Ecke gedachten“ Titel ihrer Arbeiten belegen, dass Christiane Möbus eine poetische Ader hat. Sie schreibt auch Gedichte. Eines davon gab der Ausstellung in Hannover den Titel „Seitwärts über den Nordpol“. 1983 ist es entstanden: „30. August 1983 auf dem Weg von Ost nach West / Jahrhundertsommer / Bei mir ist auch im Sommer Winter. / Ich arbeite seit einigen Jahren / An ‚seitwärts über den Nordpol‘, / und es gibt / zunächst keine Hoffnung auf besseres Wetter.“

Wie man seitwärts über den Nordpol gelangt, erschließt sich herkömmlichem navigatorischem Verständnis nicht ohne Weiteres. Der Titel macht aber klar, dass diese Künstlerin ihren Weg abseits ausgetretener Pfade gesucht und gefunden hat. Meist greift sie auf objets trouvés aus der Alltagswelt zurück, die in verfremdeter Form Kunstcharakter annehmen. Vielleicht kein Zufall, dass Möbus bevorzugt Fahrzeuge und Tiere in ihre Arbeiten einbindet – beides lässt sich abermals mit Bewegung assoziieren.

Blickfang der Ausstellung ist ein LKW-Fahrerhaus, das sich ins Sprengel Museum verirrt hat. Die Auto-Skulptur erscheint seltsam abgeschnitten, weil der Rumpf des tonnenschweren MAN-Trucks fehlt. Seine Stelle nimmt ein filigranes Gespinst aus Tüll ein. Eine Paradoxie, die durch den Titel Schneewittchen für den schwarzen LKW-Torso noch verstärkt wird. Christiane Möbus liebt solche überraschenden Arrangements, die zum Schmunzeln verleiten. Ein Paradebeispiel dafür ist ihre Skulptur Küsse vom König: Eine präparierte Giraffe, bald sechs Meter hoch, steht auf einem Metallpodest. Abgesichert wird der Drahtseilakt durch Stahlseile. Die Gegenstände beschwören Zirkusatmosphäre herauf. Allerdings hat wohl noch kein Dompteur eine veritable Giraffe dazu verleiten können, auf einem Podest zu balancieren.

Für Christiane Möbus, die Tierbändigerin im Reich der Kunst, kein Problem. Eisbären, Geißböcke, Fische, Pferde oder Raben, sie alle haben in ausgestopfter Form Eingang in das plastische Repertoire der Künstlerin gefunden. Versteht sich, dass Möbus im vergangenen Jahr mit von der Partie war, als die Kunsthalle Emden die Gruppenausstellung „wild/schön. Tiere in der Kunst“ zeigte. Bilder von Tieren gibt es, seit vor circa 40 000 Jahren Vorfahren des Menschen damit begannen, die Wände von Höhlen mit Darstellungen von Pferden, Bisons oder Mammuts zu verzieren. Was auch immer sie damit bezweckten (hierüber kursieren verschiedene Deutungen), so bezeugt die Höhlenmalerei jedenfalls eine starke Verbundenheit mit dem Getier. Diese Vertrautheit vermitteln auch die Tierskulpturen von Christiane Möbus, wiewohl formal auf einem anderen Planeten angesiedelt.

Macht man vom Sprengel Museum den 15-Minuten-Gang zum Kunstverein Hannover an der Sophienstraße, richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst auf die Arbeit rette sich wer kann. Zwei Rettungsboote, deren Fassungsvermögen auf zehn Personen beschränkt ist, führt Möbus ad absurdum, indem sie dort Heuballen aufeinanderstapelt. „Das Boot ist voll“, so umschrieb zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ein eidgenössischer Bundesrat das Bild der Schweiz als kleines Rettungsboot mit beschränktem Fassungsvermögen. Die Künstlerin nimmt die Formulierung beim Wort und konterkariert den Rettungsauftrag der Boote. Obwohl die Installation bereits 2001 entstanden ist, liest sie sich wie ein Kommentar zur jüngsten Flüchtlingskrise in Europa.

Als Anspielung auf Migration und Rastlosigkeit des Daseins lässt sich auch NELLY interpretieren. Im Kunstverein verbreitet diese auf einem Rollwagen aufgebaute Objekt-Assemblage von 2007 eine Aufbruchstimmung der diffusen Art. Ob Aufbruch zu neuen Ufern oder Ausbruch aus prekären Lebensumständen, das bleibt offen. Etliche Koffer, Taschen und Transportkisten sind aufeinandergetürmt; dazwischen finden sich Medizinbälle und ein Paar Kinderhandschuhe. Ein grimmig blickendes Krokodil thront auf dem Koffer-Arrangement und scheint es zu bewachen.

Dass eine Künstlerin, die allemal mental immer auf der Achse ist, einen Namensvetter hat, der in den Zwanzigerjahren als Sprinterstar auf den Aschenbahnen Europas Berühmtheit erlangte – wer wollte das für einen Zufall halten! Fritz Möbus, der flotte fränkische Flitzer, eröffnete 1924 in Crailsheim eine Werkstatt, in der er Sportschuhe für Spitzensportler herstellte. In den 1950er-Jahren avancierte die Marke „möbus“ zu einem der führenden Produzenten von Sportartikeln. In der Fotografie Wanderdüne, ausgestellt in beiden Stationen, hat die Künstlerin eine blaue „möbus“-Sporttasche prominent ins Bild gerückt. Auf einer Fläche von 260 mal 272 Zentimetern entfaltet sich ein Interieur, das einer Messie-Behausung zu entstammen scheint. Krimskrams, wohin das Auge blickt. Auch ein Globus lässt sich ausmachen – ein weiteres Sinnbild des Fernwehs, das Möbus offenbar chronisch gepackt und künstlerisch inspiriert hat. Schlägt man den Begriff „Wanderdüne“ in Wörterbüchern nach, so stößt man beispielsweise auf diese Erklärung: „Düne, die von Winden getrieben ihre Position verlagert“. Vom Winde verweht – dieses Schicksal jedenfalls droht den Werken von Christiane Möbus nicht. Ihre Kunst ist gekommen, um zu bleiben.

 


Auf einen Blick

Ausstellung: Christiane Möbus. Seitwärts über den Nordpol

Orte und Laufzeit:
Sprengel Museum Hannover, Kurt-Schwitters-Platz 1, 30169 Hannover
Bis 11. September 2022
Internet: https://www.sprengel-museum.de/

Kunstverein Hannover, Sophienstraße 2, 30159 Hannover
Bis 24. Juli 2022
Internet: https://www.kunstverein-hannover.de/

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Profile

Christiane Möbus wurde 1947 in Celle geboren. Heute lebt sie in Hannover und Berlin. Von 1966 bis 1970 studierte sie an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Braunschweig bei Emil Cimiotti. 1982–1990 war sie Professorin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. 1990–2014 lehrte sie an der Universität der Künste Berlin. 2018 erhielt Christiane Möbus den Hannah-Höch-Preis des Landes Berlin.

Foto: Herling / Herling / Werner, Sprengel Museum Hannover
Christiane Möbus in ihrer aktuellen Ausstellung im Sprengel Museum

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