Ausstellung

Proportion, Körperpracht und Körperleid

Die Bremer Kunsthalle untersucht das Bild männlicher Nacktheit

Der Körper ist politisch geworden und damit auch sein Bild. Die aktuellen Genderdiskussionen und Definitionskämpfe zeigen das überdeutlich und strahlen auch nach rückwärts ab. Die Ausstellung „Manns-Bilder“ der Bremer Kunsthalle macht das im Katalog deutlich, konzentriert sich aber dankenswerterweise erst einmal darauf, den unbekleideten Mann zur Ansicht zu bringen. „Der männliche Akt auf Papier“ in den Räumen des Kupferstichkabinetts umfasst Darstellungen von der Renaissance bis in die klassische Moderne (und bezieht interessante Seitenblicke ein, wie beispielsweise den auf japanische Holzschnitte oder frühe Fotografien). Der reiche eigene Sammlungsbestand des Hauses macht das möglich.

Statt schematisch der Chronologie zu folgen, fokussieren einzelne Kapitel der Ausstellung auf Unterthemen, wie etwa die unterschiedliche Auffassung der Nacktheit unter christlichen und antiken Vorzeichen. Zum Einstieg „Götter und Helden“: Denn natürlich, hier in der Welt der griechisch-römischen Antike, liegt die Wurzel aller späteren Aktauffassungen (der männlichen wie auch der weiblichen). Der männliche Akt bildet den Nukleus der griechischen Kunst: Männliche Götter und Heroen sind für eine stark patriarchal geprägte Gesellschaft Inbegriff des Idealen. Diese Idealität zeigt sich in der unbekleideten Darstellung: Schon in der archaischen Zeit sind die Kuroi, Skulpturen junger Männer, als Akte aufgefasst, während die weiblichen Entsprechungen, die Koren, bekleidet sind. „Die Vorstellung des männlichen Körpers als Maß aller Dinge führte in der griechischen Klassik zum kunsttheoretischen Kanon des Bildhauers (…) Polyklet“, wie es die Bremer Kuratorin Christine Demele formuliert. Und weiter: Die „ideale Nacktheit des jungen muskulösen Mannes (verkörpert) Stärke und Freiheit.“ Herkules, Apoll und wie sie alle heißen setzen langanhaltend die Maßstäbe.

Aber wir haben es ja in der Bremer Schau gar nicht mit marmornen oder bronzenen Bildwerken zu tun, sondern mit Darstellungen auf Papier. Das bewirkt einen entscheidenden Dreh: Diese Jahrhunderte nach der Antike entstandenen Darstellungen sind zwangsläufig vermittelt, sind Bilder nach Vor-Bildern. So sind zwar die beiden Akte von Marcantonio Raimondis Apoll und Admetus (1506) unschwer auf antike Plastik zurückzuverfolgen (komischerweise bis hin zum charakteristischen Abbruchschaden des membrum virilis …). Der Kupferstich jedoch gehorcht auch eigenen Gesetzen, er stellt, anders als eine Plastik, Umraum zur Verfügung, den der Stecher mit ornamentalem Beiwerk füllt. Jusepe de Ribera nutzt die Freiheit des grafischen Mediums, seinem Trunkenen Silen (1628) durch erzählerische Anreicherung zur klareren Verständlichkeit zu verhelfen. Herkules Farnese (1592) ist ein erstaunliches Blatt: Henrik Goltzius zeigt den antiken Heros als Bild im Bild, vielmehr als Skulptur im Bild aus einer extrem steilen Untersicht und dann auch noch von hinten. So ragt der Halbgott mit seiner befremdlich geformten Keule turmartig auf. Dadurch werden die beiden mit dargestellten Betrachter, ganz knapp am unteren Rand und von diesem brutal angeschnitten, förmlich zu Zwergen. Diesen Zwergen dürfen wir, die Betrachter von Goltzius‘ Betrachtern, uns getrost beigesellen: Die Größe der Antike ist schier beängstigend … Der nackte Mann in der christlichen Kunst im Kapitel „Gottes Ebenbild“ kann sich höchstens als Adam zu ähnlichem Glanz aufschwingen wie seine antiken Vorfahren: Heinrich Aldegrevers Paradiesbewohner (Mitte des 16. Jahrhunderts) ist von wahrlich berückender Schönheit (und noch ohne Feigenblatt, das ja erst nach dem fatalen Sündenfall verpflichtend wird). Der Körper des christlichen Zeitalters ist vor allem ein Ort des Schmerzes. Sei es, dass der Schmerz dem Leib des Heiligen von Peinigern zugefügt wird, sei es, dass Krankheiten von ihm Besitz ergreifen. Der Unterschied hier ist auffällig: Dürers Heiliger Sebastian an der Säule (1499) darf auch pfeilgespickt seine ideale Schönheit behalten, während, von gleicher Hand, das Selbstbildnis leidend mit Marterwerkzeugen (1522) ungeschönt einen leidenden und deutlich alternden Körper zeigt. „Dürer zeichnet sich nackt“ ist Gegenstand eines eigenen, aufschlussreichen Kapitels in Ausstellung und Katalog.

Die Lebensalter des Mannes, das können Allegorien der bekannten drei Epochen des Lebens sein (und insofern oft akzentuiert mit moralischer Bedeutung) oder auch einmal ganz unbeschwerte Feiern der Diesseitigkeit. Renée Sintensis Zwei nackte Knaben (1923) belegt, dass die Bildhauerin auch im (korrekturunfreundlichen) Medium der Kaltnadelradierung eine sichere Hand hat. Ist hier die Reduktion der Gestalten auf wenige, markante Linien auffällig, so bezieht sich Lovis Corinth bei seinem Stehenden Knabenakt (1902) auf die Tradition der akademischen Zeichenkunst. Von der nun wollte sich, in genau dieser Zeit, Paula Modersohn-Becker in ihrer Malerei entschieden abwenden. Ihre beiden großformatigen, mit Kohle und Kreide ausgeführten, stehenden Männerakte sind hingegen noch Belege für ihre Ausbildung. Sie sind quasi-akademisch, denn der eigentliche Unterricht an der „offiziellen“ Kunstakademie war für Frauen (im Großen und Ganzen bis nach dem Ersten Weltkrieg) nicht zugänglich. So blieb ihnen nur der Besuch der privaten Ausbildungsstätten, wie sie im Paris dieser Jahre florierten und wo diese Blätter wohl entstanden: Dort war für angehende Künstlerinnen sogar die Arbeit nach männlichen Aktmodellen möglich. Dem weiblichen Blick auf den männlichen Körper ist im Katalog ein eigener Aufsatz gewidmet, der zusätzlich Werke außerhalb der Ausstellung einbezieht.

Die Moderne ist das Zeitalter des Zuschauersports als kulturellem Phänomen: Die Drei Ringer auf einer Bühne, eine Farbstiftzeichnung von Henri Gabriel Ibels von 1892, zeigt freilich nicht den umjubelten Triumph, sondern untersetzte, sichtlich erschöpfte Kämpfer in einer Jahrmarktsbude, die ins Leere schauen. Auch Max Beckmanns Schlafender Athlet (mit dem Entstehungsdatum 1946 das jüngste Blatt der Ausstellung) ist kein strahlender Heros, sondern ein eigenartig verknotet Liegender. Das blaue Tuch, auf dem er ruht, umhüllt ihn, ein eigentümliches Bild, wie die Fruchtblase den Embryo … Einen solchen Tiefpunkt der Energie könnte man sich bei den beiden japanischen Sumo-Ringern kaum vorstellen – aber diese Farbholzschnitte (um 1800) bedienten schließlich damals vor allem den Fan-Markt und da war Heldentum gefragt! Hans von Mareées Idylle II (1873/74) dagegen entstand für einen andersgearteten Verwertungszusammenhang. Der Künstler konzipiert hier (ein Beispiel nur aus einer großen Anzahl weiterer Blätter) die Verteilung der Figuren – männliche Akte und einige verhüllte Frauen – in angedeuteter mediterraner Architektur. Es handelt sich um Vorentwürfe für sein großes Fresko-Projekt in Neapel. Antikisches in Ambiente und Auftritt überschneidet sich mit Verweisen auf zeitgenössisch moderne Körperkultur. Dort, und besonders in den diversen Lebensreformbewegungen, gewinnt die Nacktheit eine ganz neue Bedeutung.

Eines der schönsten wie zugleich auch rätselhaftesten Blätter der Bremer Schau sei abschließend noch erwähnt: Max Klingers Philosoph, eine Aquatinta-Radierung von 1910, zeigt uns im verlorenen Profil eine ranke Jünglingsgestalt, die über einen – im Maßstab völlig unpassenden – liegenden weiblichen Akt hinweg mit ausgestreckter Hand in die Ferne greift. Diese Ferne aber scheint ein Spiegel zu sein, dessen Fläche die Zeigefingerspitze gerade so berührt. Natürlich muss man hier an die berühmteste Fingerspitzenberührung der Kunstgeschichte denken, Michelangelos Erschaffung Adams aus der Sixtinischen Kapelle: Das macht die Sache aber auch nicht unbedingt klarer, genauso wenig wie die Tatsache, dass sich die ganze Szene in einer weiten Landschaft mit Fluss und Gebirge abspielt. Wie auch immer, es ist wunderbar!

Auf einen Blick

Ausstellung:
Manns-Bilder. Der männliche Akt auf Papier.

Ort und Laufzeit:
Kunsthalle Bremen, Am Wall 207, 28195 Bremen
Bis 6. November 2022

Internet:
www.kunsthalle-bremen.de

Öffnungszeiten:
Di 10.00–20.00 Uhr | Mi bis So 10.00–17.00 Uhr

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Profile

Die Bremer Kunsthalle wurde im Revolutionsjahr 1849 eröffnet – ein bemerkenswerter historischer Markstein, handelte es sich doch um den ersten ständigen eigenfinanzierten Bau für eine bürgerliche Sammlung. Der den Bau bis heute tragende Kunstverein war schon 1823 gegründet worden. Das Ziel, mit diesem Museum Bürgern wie Künstlern Muster jeweils moderner wie auch historischer Kunst als Belehrung und Vorbild anbieten zu können, wurde über die Zeit kontinuierlich verfolgt. Mehrere Erweiterungsbauten, zuletzt zweiflügelige Pavillons an den Seiten, ermöglichen dem Haus in den Wallanlagen unweit der Bremer Innenstadt attraktive Wechselausstellungen wie auch die Pflege der hochrangigen Sammlung.

Foto: Michael Gielen

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