Ausstellung

Keine Selbstverständlichkeit

„Atmen“ in der Hamburger Kunsthalle

Schon in der Antike ist der Atem mehr als nur Luft, die in und aus dem Körper strömt. Er ist Vehikel des Lebens, des Denkens, der Inspiration und in vielen Weltkulturen auch der Seele. In der jüdisch-christlichen Tradition gilt das Einhauchen des Atmens als zentraler Moment des göttlichen Schöpfungsaktes. Im Alltag wird die Atmung oft als Selbstverständlichkeit wahrgenommen, die erst dann in den Blick gerät, wenn sie durch Krankheiten, Klimawandel, Pandemien oder körperliche Gewalt schwindet. So sind beispielsweise die letzten Worte von George Floyd 2020 „I can’t breathe“ geradezu zu einem Synonym rassistischer und institutioneller Gewalt geworden. Weit davon entfernt, ein neutraler physiologischer Prozess zu sein, trifft Atmen immer eine gesellschaftspolitische Aussage: Die Versorgung mit Luft macht auf unterschiedlichen Ebenen Mechanismen von sozialen und politischen Ein- und Ausschlüssen deutlich und hinterfragt radikal das eigene Verhältnis zur Welt und zueinander. Dies gilt besonders in der Zeit einer globalen Pandemie, in der der Zugang zu Sauerstoff lebenswichtig geworden und der eigene Atem und der Atem der anderen zu einer krankheitsauslösenden und potenziell todbringenden Gefahr geworden ist.

Diese und andere Facetten des Atmens und seiner Darstellung stehen derzeit im Fokus in der Hamburger Kunsthalle: Dort ist die weltweit erste große Ausstellung zum Thema „Atmen“ in der Kunst der Alten Meister und der Kunst der Gegenwart zu sehen (bis 15. Januar 2023). Mehr als 100 Werke werden miteinander in spannungsreiche, teils epochenübergreifende Dialoge gebracht. So entsteht ein unkonventioneller Austausch über ein existenzielles Thema, das zunächst wie ein unbewusster, biologischer Vorgang anmutet, aber vielfältige soziale und politische Dimensionen bereithält: vom Atem als zentraler biblischer Metapher und als Ausdruck unserer Beziehung zur Welt über Luftverschmutzung und Atemwegserkrankungen bis hin zu Black Lives Matter. In unterschiedlichen Kapiteln widmen sich rund 45 künstlerische Positionen aus 18 Ländern dem Thema und verdeutlichen seine Vielfalt, seine gesellschaftspolitische und globale Relevanz sowie aktuelle Brisanz.

Die interdisziplinäre Bandbreite der präsentierten künstlerischen Medien reicht von Malerei, Skulptur und Installation über Fotografie und Zeichnung bis hin zu Performance, Video, Film und Sound Pieces. Dabei umfasst die Schau herausragende Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen wie dem Rijksmuseum Amsterdam, der Museumslandschaft Hessen Kassel und der Staatlichen Museen zu Berlin sowie der New Yorker Leiden Collection. Darunter sind Hauptwerke der Alten Meister Hendrick ter Brugghen und David Teniers d. J. ebenso wie Arbeiten von internationalen Zeitgenoss*innen wie dem kolumbianischen Künstler Oscar Muñoz oder der indischen Künstlerin Vibha Galhotra – aktuelle Trägerin des Fellowships der Philipp Otto Runge Stiftung. Zusätzlich wurden Künstler*innen eingeladen, speziell für die Ausstellung neue Werke zu schaffen (Helen Cammock, Alice Channer, Joachim Koester, Sebastian Stumpf u. a.) oder Arbeiten zu modifizieren (Forensic Architecture, Kasia Fudakowski, Teresa Margolles, Markus Schinwald und Nina Canell). Ergänzt um Exponate aus der Sammlung bespielt „Atmen“ insgesamt eine ungewöhnlich große Ausstellungsfläche: Sie erstreckt sich durch mehrere Gebäudeteile der Hamburger Kunsthalle und reicht mit einer einmalig stattfindenden großen Lichtprojektion (In memoriam von Jenny Holzer) am 19. November 2022 bis hinaus in ihre Außenbereiche.

Für das Erkunden der Ausstellung sowie zur Vor- und/oder Nachbereitung stehen in der App der Hamburger Kunsthalle vier Audiotouren bereit (gratis zum Download bzw. für 4 Euro mit Leihgerät), die sich an thematischen Stationen unterschiedlichen Aspekten der Ausstellung widmen: Audiotour für Erwachsene in deutscher und englischer Sprache; Guide für Kinder ab 8 Jahren und ein Audioguide in leichter Sprache (jeweils deutsch).

Mit „Atmen“ haben die Besucher*innen die Gelegenheit, sich dem facettenreichen Thema auf vielfältige Weise anzunähern und sowohl historische Analogien als auch zeitgeschichtliche Besonderheiten im künstlerischen Umgang mit dem Atmen auszumachen. Die Schau ist nach „Besser scheitern“ (2013), „Warten“ (2017) und „Trauern“ (2020) ein weiterer Höhepunkt in einer Serie von gesellschaftlich relevanten Themenausstellungen an der Hamburger Kunsthalle.

 


Auf einen Blick

Ausstellung: „Atmen“

Bis 15. Januar 2023

Hamburger Kunsthalle

Glockengießerwall 5

20095 Hamburg

Website: https://www.hamburger-kunsthalle.de/ausstellungen/atmen

 

 

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Die drei nahe der Alster gelegenen, markanten Gebäude der Hamburger Kunsthalle beherbergen eine der wichtigsten öffentlichen Kunstsammlungen Deutschlands. Die Kunsthalle ist eines der wenigen Häuser, die einen Rundgang durch acht  Jahrhunderte Kunstgeschichte ermöglichen. Sie ist ein exzellenter Ort, um Zusammenhänge zu entdecken und neue, überraschende Einblicke zu gewinnen. In der Präsentation der renommierten Sammlungsbestände und Wechselausstellungen werden die Entwicklungen der Kunst vom Mittelalter bis heute gezeigt.

Bild:
Außenansicht des neu erschlossenen Eingangsportals der Hamburger Kunsthalle © Hamburger Kunsthalle | Foto: Ralf Suerbaum

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