Ausstellung

Wahrheitsgetreu und ehrlich

Im Hamburger Bahnhof wird der Fotograf Michael Schmidt gefeiert

Obwohl Michael Schmidts Berliner Stadtlandschaften größtenteils in den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstanden sind, wirken die Bilder wie Szenen aus einer anderen Epoche, vergleicht man sie mit heutigen Ansichten. Will Berlin mittlerweile trendy, schick und glamourös daherkommen, so dokumentiert sich in den Szenen aus Kreuzberg, Neukölln oder aus dem Wedding der Wille zur Sachlichkeit, zur ungeschminkten Bestandsaufnahme von Straßen, Plätzen und Gebäuden – nicht zu vergessen die Mauer, die Berlin vor der Wende ihren garstigen Stempel aufprägte. Ein „wahrheitsgetreues und ehrliches Bild“ der Stadt wollte Schmidt vermitteln. Dem Berliner Fotografen (1945–2014) richtet der Hamburger Bahnhof, das Berliner Museum für Gegenwart, eine Retrospektive aus – die erste Übersichtsausstellung in seiner Heimatstadt nach 25 Jahren.

Der in acht Schwerpunkte untergliederte Rundgang umfasst neben den Berliner Stadtansichten, die den Autodidakten bekannt gemacht haben, Porträts, Selbstporträts, Landschaften und Stillleben. Darüber hinaus veranschaulichen Probeabzüge, Buchentwürfe und Archivmaterialien die Arbeitsweise des Perfektionisten, der am liebsten alles selbst in die Hand nahm: „Foto-Journalist, Dozent, Werbefotografie, Entwurf und Gestaltung“, das hatte er schon am Anfang seiner Karriere, zu Beginn der 1970er-Jahre, auf den Kopf seines damaligen Briefpapiers drucken lassen. Eine programmatische Aussage.

Dass Michael Schmidt als Fotograf eine steile Karriere im Kunstbetrieb machte, dass sogar das New Yorker Museum of Modern Art seine Bilder ankaufte, daran war wahrlich nicht zu denken, als er am 6. Oktober 1945 in Berlin-Kreuzberg geboren wurde. Der Sohn eines Lagerverwalters und einer Mutter, die eine Lampenfabrikation betrieb, begann 1962 eine Lehre als Anstreicher, wechselte aber noch im selben Jahr zur West-Berliner Bereitschaftspolizei, wo er eine Ausbildung machte. Sein Erweckungserlebnis geschah drei Jahre später, als Schmidt im Spind eines Kollegen einen Fotoapparat entdeckte und augenblicklich Feuer für das Bildermachen mit der Kamera fing. Sein erster eigener Apparat, eine Kleinbildspiegelreflex-Kamera der Marke Exakta Varex, kostete 800 Mark – das entsprach beinahe drei seiner Monatsgehälter. Derart gerüstet, engagierte er sich im Verband Deutscher Amateurfotografen-Vereine (VDAV) und gab schon damals, in kantigem Berlinerisch, unmissverständlich darüber Auskunft, was aus seiner Sicht ein gutes Foto ausmacht: „Wenn ich Regen fotografierte, sah das aus wie Regen. Wenn die det fotografierten, sah das aus wie Glasperlen.“

Ende der 1960er-Jahre gab Schmidt, der bis 1973 im Polizeidienst arbeitete, erste Fotografie-Kurse an den Volkshochschulen von Kreuzberg und Neukölln. Die erste Einzelausstellung konnte er 1975 verbuchen – der renommierte Berliner Galerist Rudolf Springer hatte sein Potenzial erkannt: „Soviel Langeweile muss Methode haben“, urteilte Springer. Verkauft wurde allerdings nichts bei dieser Ausstellung. Der Einsatz in der Erwachsenen-Bildung führte 1976 zur Einrichtung einer Werkstatt für Fotografie an der Volkshochschule Kreuzberg – Ende der Siebzigerjahre einer der wichtigsten Orte der Westberliner Fotoszene. Kennzeichnend für Michael Schmidt, dass er die Kursteilnehmer ermunterte, persönliche Bilder zu machen, Fotografien, die mit ihrem Leben zu tun hatten, nicht mit irgendwelchen Klischees von dem, was es wert ist, im Bild festgehalten zu werden. Das VHS-Engagement, mehr aber noch die guten Kontakte des SPD-Mitglieds zum langjährigen Kreuzberger Bezirksbürgermeister Günther Abendroth bereiteten den Weg zu einem Auftrag, der darin bestand, den Multikulti-Stadtteil fotografisch in einem eigenen Buch zu dokumentieren. Eine Recherche vor der Haustür, in seinem eigenen Kiez, wo Schmidt bis zu seinem Tod lebte. Man spürt diese Vertrautheit, wenn man die Fotografien betrachtet, die Aufnahmen der noch nicht entkernten Hinterhöfe und sanierungsbedürftigen Wohnhäuser, die von unaufgeregter Sympathie zeugenden Fotos der Gastarbeiter, die am Landwehrkanal entspannen, der Hauswartsfrau von der Lausitzer Straße oder der Kinder, die in diesem rauen Ambiente aufwachsen.

1978 folgte ein ähnlicher Auftrag, diesmal bezogen auf den Bezirk Wedding. Schmidt untergliederte dieses Buch in zwei Kapitel, Stadtlandschaft und Menschen. Grau in Grau und ziemlich trist erscheint der Wedding in diesen Fotografien, die den Eindruck erwecken, sie seien an einem frühen, trüben Sonntagmorgen im Winter aufgenommen worden. Den konstant grauen Himmel über Berlin setzte der Fotograf mit Bedacht als Stilmittel ein: „Es war ein ganz bewusster Schritt, die Bilder ins unermessliche Grau zu treiben, sodass Schwarz und Weiß in ihnen eigentlich gar nicht mehr vorkommen“, so Schmidt. „Grau ist für mich eigentlich eine Farbe der Differenzierung, so komisch das klingt. Schwarz und Weiß sind ja zwei feste Standpunkte, rechts und links. Und ich dachte, dass die Welt sich nicht klar definiert, sondern sich in vielen Nuancen darstellt. Das habe ich versucht, in die Fotografie einzubringen.“

Brachland, verwaistes Terrain, karge Brandmauern, Gebäude, die noch von den Schäden des Zweiten Weltkriegs künden – solche unwirtlichen Motive dominieren auch in der Serie Berlin nach 45, die 2005 als Buch publiziert wurde. Mit einer 13 × 18 Zentimeter Großbildkamera, die er vom Stativ bediente, durchstreifte Schmidt hierfür das Areal der südlichen Friedrichstadt und die Gegend rund um die Ruine des Anhalter Bahnhofs. Seine präzis-wissenschaftliche, gleichsam archäologische Methode erinnert an die seriellen Fotografien, mit denen das Düsseldorfer Fotografenpaar Bernd und Hilla Becher zur selben Zeit alte oder vom Abriss bedrohte Industriegebäude dokumentierte. Stets legte Michael Schmidt Wert darauf, „dass die Bilder nichts Plakatives haben. Sie sind nicht erzählerisch. Sie ergeben zwar eine Erzählstruktur, die findet sich aber nicht im einzelnen Bild wieder.“

Mit dem „Menschen“-Kapitel seines „Berlin-Wedding“-Buchs knüpfte Schmidt an frühere Arbeiten an, die einzelnen Bevölkerungsgruppen gewidmet sind. Senioren in Berlin und Frauen im Beruf, beide 1974 entstanden, lenken den Blick, darin vergleichbar den Architekturdarstellungen, auf das Unspektakuläre. Schmidts besondere Gabe besteht darin, die gleichförmige Routine wie eine wertvolle Handlung zu zelebrieren. Mit seiner Kamera hält er das Hamsterrad an, filtert aus der Monotonie einzigartige Momente heraus. Gleiches gilt für die Serie Benachteiligt, 1982 ebenfalls als Auftragsarbeit entstanden. Im Zentrum steht hier der Alltag von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten.

Eine Zäsur im Schaffen des Fotografen markiert 1987 die Serie Waffenruhe. Hier bricht er mit der distanzierten Sichtweise und dem Grauschleier, der den Dingen ihre Schärfe nimmt. Stadtlandschaften, Naturdetails und Porträts erscheinen nun in kontrastreichem Schwarzweiß, und an die Stelle der distanzierten Gesamtwiedergabe eines Motivs treten Ausschnitte, die das Subjektive betonen. „Seine Fotografie folgt nun nicht mehr vorrangig den Mitteln der Dokumentation, sondern formuliert in überraschenden Bildzusammenhängen das dystopische Lebensgefühl einer Generation kurz vor dem Fall der Mauer“, so Thomas Weski, Kurator der Ausstellung. Gut möglich, dass die Zusammenarbeit mit Einar Schleef diesen Wandel beförderte. Gemeinsam mit dem Theaterregisseur, Schriftsteller und Fotograf hatte er das „Waffenruhe“-Projekt als Beitrag zur 750-Jahr-Feier von Berlin entwickelt. Enthusiastisch das Echo des US-Fotografen William Eggleston, dem Schmidt die Publikation zur Ausstellung in der Berlinischen Galerie geschickt hatte: „thank you for sending your new book“, schrieb Eggleston aus Memphis nach Kreuzberg. „i think it is wonderful and certainly the best work i have ever received from berlin.“

Hätte mancher erwartet, dass die Wiedervereinigung und das erneute – wenn auch problematische – Zusammenwachsen von West- und Ost-Berlin Michael Schmidt reichlich neuen Stoff für seine fotografischen Berlin-Essays bescherten, so verhielt es sich genau umgekehrt. Die Wende bedeutete für ihn eine Abwendung von Berlin. Zwar zollte er den fundamentalen politischen Veränderungen in der 1996 veröffentlichten umfangreichen Werkgruppe Ein-Heit Tribut, doch richtete sich sein Interesse vor allem auf die fotografische Erfassung der Natur. Die meisten dieser Aufnahmen entstanden im Wendland, wo er und seine Frau Karin Mitte der 1970er-Jahre ein Wochenendhaus erworben hatten. Später kaufte er sich einen Wohnwagen und tourte ausgiebig durch ganz Deutschland – das 2005 erschienene Künstlerbuch „Irgendwo“ versammelt diese Aufnahmen aus ländlichen Regionen, von Kleinstädten und ihren Bewohnern.

Mit Lebensmittel (2006–2010) schlägt Michael Schmidt erneut ein neues, ein letztes Kapitel auf. Die knapp 180 Aufnahmen umfassende Serie fotografierte er in Einrichtungen zur Wurst-, Teigwaren- und Käseherstellung, auf Fischfarmen, Obst- und Gemüseplantagen, in Mast- und Schlachtbetrieben, in Gewächshäusern, auf Olivenölplantagen und Insektenfarmen sowie in lebensmittelverarbeitenden Betrieben. Beinahe eine wissenschaftliche Vivisektion unserer Lebensmittel, für die Schmidt erstmals neben der Schwarzweiß- auch Farbfotografie einsetzte. Die Industrialisierung unserer Nahrungsherstellung, die Optimierung von Lebensmitteln, die Degradierung von Tieren zu Nutztieren – solche Aspekte macht Schmidt bewusst, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben. 2013 konnte er seine Lebensmittel-Serie in der Hauptschau der Venedig-Biennale präsentieren. Ein Triumph, gefolgt von einem Schock: Nach der Rückkehr aus Venedig wurde bei Michael Schmidt Lungenkrebs diagnostiziert. Er starb am 24. Mai 2014 in Berlin. Sein Grabstein auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ist schlicht und schnörkellos. Keine Überraschung für den, der seine Fotografie kennt.


Auf einen Blick

Ausstellung

„Michael Schmidt – Retrospektive. Fotografien 1965—2014“

Ort
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin
Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin

Dauer
Bis 17. Januar 2021. Im Anschluss an die Berliner Station läuft die Ausstellung in der Galerie Nationale du Jeu de Paume, Paris (11.5.–29.8.2021), dem Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid (28.9.2021–28.2.2022) und dem Albertina Museum, Wien (24.3.–12.6.2022).

Öffnungszeiten
Dienstag, Mittwoch, Freitag bis Sonntag: 11–18 Uhr
Donnerstag: 11–20 Uhr

Katalog
Michael Schmidt: Fotografien 1965–2014.
Berlin, Hamburger Bahnhof, Katalog hrsg. von Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt. Berlin/Paris u.a.O. 2020-22. Beiträge. von Ute Eskildsen, Janos Frecot, Peter Galassi, Heinz Liesbrock & Thomas Weski, geb., dt., 400 S. mit 521 (353 farb.) teils ganzs. Abb., 24 x 29,6 cm, Verlag der Buchhandlung Walther König, ISBN 9783960987949

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