Ausstellung

Bunt ist das Leben, farbig die Kunst

„Farbanstöße. Farbe in der neueren Kunst“ in Bochum gleicht einer Schule des Sehens

Man würde eine Arbeit von Richard Serra nicht zwangsläufig in einer Ausstellung vermuten, die sich der Farbe in der Kunst widmet. Weit besser bekannt ist der US-Bildhauer für seine wuchtigen monochromen Stahlplastiken. Gleichwohl gehört ein 16-Millimeter-Film Serras zu den aufschlussreichsten Exponaten einer Präsentation zum Thema „Farbanstöße. Farbe in der neueren Kunst“. Derzeit vereint diese Ausstellung im Bochumer Museum unter Tage / Situation Kunst (für Max Imdahl) Werke von rund 60 Künstlern, allesamt Musterbeispiele, um die Sinne und den Verstand für die unerschöpflichen Facetten des Kolorits zu schärfen.

Serras Film Color-Aid (1970/71) besteht aus einem lapidaren Plot. Geschlagene 36 Minuten lang zieht der Künstler in unregelmäßigen Abständen einzelne monochrome Farbpapiere von einem Stapel. 202 verschiedene Farbtöne, entlehnt einer handelsüblichen Skala der 1960er-Jahre, entblättern sich vor unseren Augen, pure Farben, zu denen die schwarz unterlaufenen Fingernägel Serras einen eigenartigen Kontrast bilden. Akustisch untermalt wird die minimalistische Handlung durch das Geräusch des weggezogenen Papiers. Wer den Film von Anfang bis Ende verfolgt, wird nicht nur sensibilisiert für die Überfülle an Farbabstufungen; er kann darüber hinaus leicht in einen geradezu meditativen Farbrausch geraten.

Mit Color-Aid bezog sich Serra auf die Farbexperimente von Josef Albers, der an der Yale University in New Haven zu seinen Lehrern gehörte. Als Assistent des deutschen Malers und Kunsttheoretikers half er bei der Vorbereitung von dessen Buch „The Interaction of Color“. Versteht sich, dass die Bochumer Ausstellung Beispiele aus der berühmten Albers-Serie Homage to the Square einbindet. Allein der Lokalpatriotismus gebietet diese Hommage, wurde der Künstler und einflussreiche Vermittler doch im nahegelegenen Bottrop geboren, wo ein eigenes Museum an ihn erinnert. Sein Projekt „Interaction of Color“ verstand Albers als Seh-Schule, dazu bestimmt, die Relativität der Farbwahrnehmung vor Augen zu führen. Was ist der Grund für diese Relativität? Zum einen werden Farben von unseren Augen mitunter verschieden erfasst, je nach Lichtverhältnissen oder der Stimmung des Betrachters; zum anderen können unterschiedliche Beobachter durchaus differierende Farbeindrücke haben; nicht zuletzt muss man stets die Störanfälligkeit unseres Wahrnehmungsapparats gewärtigen.

Ohnehin begibt sich, wer die Farbenlehre meistern will, auf schwieriges Terrain. Beeindruckend und beängstigend schon dies: Durch Mischung der Grundfarben Rot, Blau und Gelb lassen sich potenziell unendlich viele Abstufungen erzeugen. Der Mensch vermag ungefähr 20 Millionen Farben zu unterscheiden. Wo will man da beginnen, wo aufhören?

Die Bochumer Präsentation, kuratiert von Silke von Berswordt-Wallrabe und Maria Spiegel, beschränkt sich auf rund ein Jahrhundert – immer noch ein sehr weites Feld. Denn anders als verwandte Vorgängerausstellungen, die sich in der Regel auf einen Farbton konzentrierten (beliebt sind Schwarz, Weiß und Blau), geht es hier um alle Farben der Kunst. Von der Landschaftsmalerei des späten 19. Jahrhunderts reicht das Spektrum bis zu Gegenwartskünstlern wie Terence Koh, Katinka Pilscheur oder Matten (Mathias) Vogel. Sinnvoll strukturiert wird der Ausstellungsessay durch Leitmotive wie „Farbe und Form im Raum“ (Mary Heilmann, Leon Polk Smith, Frank Stella, Neil Williams), „Farbe in Bewegung“ (Joachim Grommek, François Morellet, Sarah Pelikan), „Farbe erleben“ (Yves Klein, Gotthard Graubner, Erich Reusch) oder „Farbe als Dimension der Existenz“ (Günter Fruhtrunk, Sigmar Polke, Marc Mulders, Arnulf Rainer).

Im Zuge von Freilichtmalerei und Impressionismus verlor das Atelier für viele Künstler den Status der privilegierten Produktionsstätte. Vielmehr ging es ihnen vermehrt darum, Tuchfühlung mit der farbgesättigten Natur zu suchen. Unter freiem Himmel versuchten Maler wie Pierre Bonnard, Lovis Corinth, Erich Heckel, Hans Purrmann oder Max Slevogt, flüchtige Eindrücke von Farbe und Licht in einem raschen Malduktus festzuhalten. Bevorzugte Schauplätze dieser Pleinair-Begeisterung waren Gärten und Parks, die Meeresküste und Seen. In der Bochumer Ausstellung zieht vor allem ein Obstgarten, den der Schweizer Künstler Cuno Amiet 1930 malte, die Blicke magisch auf sich. Den Erdboden des Gartens verwandelte er in ein gleißendes gelbes Feld. Die wenigen Bäume und Sträucher, die auf dem Gemälde zu sehen sind, fallen angesichts dieser farblichen Offenbarung kaum ins Gewicht.

Spätestens mit dem Siegeszug der Abstraktion nach 1945 löst sich die Farbigkeit der Bilder bei vielen Künstlern von der Alltagserfahrung und folgt eigenen Gesetzen. Im Kontrast zu dieser Autonomie der Farbe entwickelt sich ein Kunstwollen, das die Ausstellung im Museum unter Tage mit dem Leitspruch „Die Farbe der Dinge“ kennzeichnet. Vielleicht der faszinierendste Part der Bochumer Ausstellung. In den Werken der Nouveaux Réalistes um Yves Klein und Arman hält das bunte Leben Einzug und bewirkt eine farbliche Blutauffrischung, die dieser Kunst eine ungemeine Dynamik gibt. „Die unzähligen Müllkippen geben am ehesten über das alltägliche Leben einer Gesellschaft Auskunft“, glaubte Arman – der Franzose, der seit 1972 auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß, ließ sich von den farbigen Überbleibseln der Wegwerfgesellschaft inspirieren. Und in Gestalt seiner Pinsel-Akkumulationen machte er das Malmaterial zum Bildgegenstand. Ein Hingucker vor allem sein 1980 entstandenes Bild Ohne Titel (Accumulation): Auf der Leinwand drückte der Künstler etliche Farbtuben aus. Die so aufgetragenen roten, orangefarbenen und gelben Schlieren halten in puncto Dynamik jedem Vergleich mit den Action Paintings von Jackson Pollock stand.

Bis heute beflügelt der Ansatz der Nouveaux Réalistes, eine Allianz zwischen Leben und Kunst zu schmieden, zahlreiche zeitgenössische Künstler. In der Bochumer Ausstellung ist die 1974 geborene Künstlerin Katinka Pilscheur eine Entdeckung. Wie Arman nutzt sie Fundstücke und Farben aus der Alltagswelt als Stein, der die Kunst ins Rollen bringt. Auf diese Weise werden die Farbe von Straßenlaternen in Buenos Aires und modische Nagellackfarben zur koloristischen Basis ganzer Werkgruppen. Mit verschiedenfarbigen Kunststoffkleiderbügeln, die sie in ein Messinggestell hängt, spielt Pilscheur witzig und ideenreich auf Farbkreise an, wie man sie aus diversen wissenschaftlichen und künstlerischen Illustrationen kennt.

Wer „Farbe in der modernen Kunst“ sagt, muss auch Yves Klein sagen. Versteht sich, dass die Bochumer Ausstellung für „Yves le Monochrome“ den roten Teppich ausrollt. Der französische Maler, Bildhauer und Performancekünstler wird allerdings in erster Linie mit einem intensiven Ultramarinblau in Verbindung gebracht, das er selbst kreierte und 1960 unter dem Namen „IKB“ sogar patentieren ließ. Die meisten Menschen assoziieren Blau mit dem Himmel und mit dem Meer – in den Augen von Klein die beiden abstraktesten Aspekte der Natur. Bis heute entfalten seine monochromen Bildwelten eine unwiderstehliche Sogkraft. Obwohl es auf diesen Bildern (außer der Farbe) nichts zu erkennen gibt, kann man sich an ihnen nicht sattsehen.

Dieses magische Blau lässt manchmal vergessen, dass Klein auch mit anderen Farben experimentiert hat, darunter mit Rosa. Sein „Monopink“ basierte auf Krapplack, gemischt mit Schneeweiß. Dem heute erneut angesagten Pink widmet Tobias Vogt im Ausstellungskatalog eine erhellende Analyse. Sein Text, überschrieben „Rosa. Geschlechter einer Farbe“, spannt souverän den Bogen von der Farbe des Inkarnats in der traditionellen europäischen Malerei und Picassos „Rosa Periode“ über dessen Verwendung als Trendfarbe für Kinderkleidung, aber auch als stigmatisierendes Abzeichen homosexueller KZ-Häftlinge bis zum subversiven Blassrot, das in der Queer Culture angesagt ist. Auch Lucio Fontana, Gotthard Graubner, Terence Koh oder Mario Nigro fühlten sich durch die helle, bläulich-rote Körperfarbe wiederholt zu koloristischen Variationen stimuliert. Für Männer, belehrt uns Wikipedia, bedeutet Rosa „meist Hilflosigkeit, Naivität und Schwäche“. Künstler, so scheint es, haben auch in puncto Pink mehr Durchblick.


Auf einen Blick

Ausstellung

Bis 19. April 2020: „Farbanstöße. Farbe in der neueren Kunst“

Öffnungszeiten

Mittwochs, Donnerstag und Freitag: 14.00–18.00 Uhr
Samstag, Sonntag und Feiertage: 12.00–18.00 Uhr

Katalog

Farbanstöße. Herausgegeben von Silke von Berswordt-Wallrabe (für die Stiftung Situation Kunst). Mit Texten von Silke von Berswordt-Wallrabe, Reinhard Hoeps, Angeli Janhsen, Irina Lammert, Maria Spiegel, Tobias Vogt, Claus Volkenandt sowie studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Situation Kunst, 176 Seiten, 110 Abbildungen, Bochum 2019, ISBN 978-3-941778-15-3

Kontakt

Museum unter Tage / Situation Kunst (für Max Imdahl), Nevelstraße 29c (im Parkgelände von Haus Weitmar), 44795 Bochum

Internet: www.situation-kunst.de

0 Kommentare
Kommentare einblenden

Profile

Das Museum unter Tage / Situation Kunst (für Max Imdahl) wurde 2015 eröffnet; es ist Bestandteil der Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum. Das Gebäude, unter der Erde auf der Hauptachse des Schlossparks Haus Weitmar erbaut, dient als Schauplatz für Wechselausstellungen und beherbergt Teile der Sammlung „Weltsichten“, bestehend aus etwa 450 Werken der Landschaftskunst vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Gewidmet ist das Museum dem Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl (1925–1988) – er verstand Kunstgeschichte als eine Wissenschaft der Erfahrung von Kunst.

[Museum unter Tage, Eingang, Foto: Museum unter Tage / Situation Kunst (für Max Imdahl), Bochum]

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: