Ausstellung

Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Die magische Kunst des Giorgio de Chirico

Wäre man aufgelegt zu zynischen Scherzen, müsste man sagen, dieser de Chirico ist der Künstler der Stunde: So menschenleer, wie seine städtischen Plätze es sind, so einsam hallend, wie seine verlassenen Arkaden im harten Licht daliegen, genauso sieht es aus in unseren Städten im Zeichen der Pandemie …

Und dabei sind de Chiricos Bilder doch schon gut ein Jahrhundert alt, die Welt ihrer Entstehung unterschied sich ganz erheblich von der unseren. Oder doch nicht? Es war die Hochblüte des bürgerlichen Zeitalters. Deutschland und Italien waren zur nationalstaatlichen Einigung gekommen, die Arbeiterschaft durch Sozialgesetzgebung besser geschützt vor den ärgsten Auswirkungen des Kapitalismus und der hygienische und technische Fortschritt sorgte für zunehmend bessere Lebensverhältnisse der allermeisten (und spezielle Rennautos wie auch alltagstauglichere Schienentriebwagen knackten schon die 200-Stundenkilometer-Marke): Der Fortschritt marschierte! Und doch, und doch … Sensible Gemüter hörten es jedenfalls damals knistern im Gebälk und wenn je die Vorstellung einer quasi seismografischen Qualität der Künste stichhaltig schien, die Idee einer ganz eigentümlich ausgeprägten Sensibilität der Maler, Schriftsteller und Musiker für das, was sonst keiner bemerkt (oder bemerken will), dann war es sicher in diesen beiden ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft

Einer der Überwachen ist de Chirico. Programmatisch schreibt er (um 1912): „Damit ein Kunstwerk wirklich unvergänglich sei, muss es ganz und gar die menschlichen Grenzen überschreiten – der ‚bon sens‘ und die Logik müssen ihm fernbleiben. Auf diese Weise wird es dem Traume und der kindlichen Mentalität nahekommen.“ [1]

Mit großer Geste wird die Göttin des bürgerlichen Lebens entthront, die Ratio der Soziologen, Wissenschaftler und Ingenieure. Quasi der geistigen Mittäterschaft verdächtigt, wird den auf eine interne Logik setzenden modernen Künstlern – Cézannes Diktum der Bildkonstruktion aus Elementarformen – der Fehdehandschuh hingeworfen. Und zugleich auch jeder Rückzug in romantische Innerlichkeit abgefertigt: „Ein tiefes Werk sollte vom Künstler in den entlegensten Unergründlichkeiten seines Wesens gewonnen werden: da, wo es vorbei ist mit murmelndem Bache und Vogelsang, wohin kein Blätterrauschen mehr dringt.“[2]

Tatsächlich, dieser Maler, der auch mit dem Wort so gut umgehen konnte, er vermag es, mit seinem Pinsel die Wirklichkeit umzuschaffen zu einer Schwester des Traums. Wer ist der Schöpfer dieser rätselhaften Bilder, wer ist dieser Giorgio de Chirico? Als Sohn eines italienischen Eisenbahningenieurs 1888 in Griechenland geboren, kehrt er 1905 mit der Familie zurück nach Italien, nur um sein (ihm so fremdes) Heimatland kurz darauf wieder zu verlassen: In München besucht er drei Jahre lang die Akademie der bildenden Künste. Die Isarstadt ist zu dieser Zeit eine wirbelnd lebendige Kunstmetropole, in der Jugendstil und Symbolismus um die Führungsrolle in den Salons streiten, ganz zu schweigen von den notorischen künstlerfürstlichen Platzhirschen. De Chirico tut sich in der Szene um und interessiert sich für Musik wie auch Philosophie. Im bildkünstlerischem Feld beeindrucken ihn die mythendunklen Gemälde von Arnold Böcklin (in der Sammlung Schack zu bewundern) und der Leipziger Max Klinger. Dieser verfolgt, vor allem in seiner Grafik, eine Bildsprache, die zeichnerische Präzision mit (alb-)traumhafter Phantastik verbindet. 1909 geht de Chirico zurück nach Italien. Aber das Zentrum der Moderne dieser Tage ist nun einmal Paris, wo der der Künstler von 1911 bis 1915 arbeitet und Picasso kennenlernt, André Derain und die Dichtungen von Apollinaire, Rimbaud und Lautréamont. In Avantgardeschauen fällt er auf mit ersten Werken. Dafür entscheidend ein wenige Jahre zurückliegendes Schlüsselerlebnis: Die arkadengesäumten Plätze Turins werden für den Künstler zur vielfach variierten Piazza d’Italia.

Dieses Schlüsselmotiv von de Chiricos Kunst steht im Mittelpunkt der großangelegten Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. „Magische Wirklichkeit“ zeigt in mehreren gut strukturierten Kapiteln eine reiche Werkauswahl. Die erwähnten Einflüsse seitens der Spätromantiker lassen sich hier anschaulich nachvollziehen, Picasso und Archipenko demonstrieren alternative Positionen der Kunst jener aufregenden Jahre des frühen 20. Jahrhunderts. Für ihre Schau mit den etwa 80 Hauptexponaten konnten die Hamburger 50 bedeutende Sammlungen als Leihgeber gewinnen: Unter ihnen das New Yorker MOMA, das Art Institute in Chicago, die Guggenheim Collection in Venedig, die Londoner Tate und das Moderna Museet in Stockholm, alles in allem ein unter den gegebenen Umständen umso bemerkenswerteres Zeugnis von kollegialer Zusammenarbeit. Wo wir schon bei den Umständen sind: Derzeit muss das Museum geschlossen bleiben, das Hamburger Team hat aber anregende Möglichkeiten gefunden, die (hoffentlich dann bald auch real zugängliche) Ausstellung in digitale Formate umzusetzen.

Plätze und Worte

Doch zurück zur Piazza d’Italia: De Chirico versammelt die bekannten Zutaten italienischer Plätze: die beschatteten Arkadengänge am Rand, die im Sonnenlicht liegende, freie Fläche des Platzes selbst und das ihn oftmals fokussierende Standbild in der Mitte. Aber nichts könnte hier ferner sein als die Atmosphäre des Alltags, die Realität des Lebens einer tatsächlichen Stadt. Eine dreifache Bildstrategie sorgt für die Verfremdung: Die in der Renaissance entwickelte Linearperspektive, einst dafür gedacht, Räumlichkeit nachempfindbar zu machen auf der Fläche des Bildes, ist hier in einer summarisch die Gegenstände zusammenfassenden Manier überspitzt und verschoben, zuweilen laufen die Perspektiven schier ins Unendliche. Zweitens wirkt die gähnende Leere dieser Plätze durch die dramatischen Schlagschatten noch seltsamer. Schließlich ist es die eigenartige Farbpalette, die de Chirico einsetzt: Die kalkigen Flächen der Mauern werden konterkariert von schweflig schattierten Himmeln. Und ob die vereinzelten menschlichen Gestalten, wie das Mädchen, das mit theatralisch flatternden Haaren einen Reif vor sich her treibt, wirklich so viel lebendiger sind als der totenstarre, gehrockgepanzerte Held des Risorgimento auf seinem Podest in der Platzmitte? Eine durch und durch ungemütliche Welt ist es, die aber dennoch Neugier zu erwecken vermag: Ist es eine innerseelische Welt im Individuum, die der Künstler hier öffnet? Ist es eine Verkehrtheit und Leere, die unter der betriebsamen Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft lauert?

Auffällig, dass dem Künstler diese doch schon so eigentümliche Visualität nicht reicht, er springt über in den Bereich der Sprache: Seine Bildtitel sind freilich alles andere als Verständnishilfen. Im Gegenteil, Die Sehnsucht nach dem Unendlichen, Der beängstigende Vormittag, Die Freuden des Dichters setzen das assoziationsmächtige Verwirrspiel mit schillernden Bedeutungen fort. Für seine magische Wirklichkeit erfindet De Chirico das griffige Label Pittura Metafisica. Die Metaphysik, die Wirklichkeit jenseits des Sichtbaren, ist angestammtes Feld philosophischen Denkens. Das war dem Künstler – er gründet 1916/17 mit seinem Bruder, dem Musiker Alberto Savinio und dem ehemaligen Futuristen Carlo Carrà eine förmliche scuola metafisica, aus der 1920 noch eine Zeitschrift entspringt (dann wieder mit der Malerei im Titel) mit Schopenhauer und Nietzsche begegnet. Diese Philosophen „(…) lehrten als erste die tiefe Bedeutung der Sinnlosigkeit des Lebens und wie diese Sinnlosigkeit in Kunst verwandelt werden konnte, eigentlich das innerste Gerippe einer wahrhaft neuen, freien und tiefen Kunst darstellen konnte. Die guten neuen Künstler sind Philosophen, welche die Philosophie überwunden haben. Sie sind ins Diesseits zurückgekehrt; sie haben haltgemacht vor den Rechtecken ihrer Tische und Wände, denn sie haben die Kontemplation des Unendlichen überwunden. Die schreckliche Lehre, die sie entdeckt haben, ist die sinnlose, gelassene Schönheit der Materie.“ [3]

Die Philosophie und der Platz: Beider Begegnung gerät zur förmlichen Epiphanie. Wieso diese aber ausgerechnet in Turin stattfindet, lässt sich naturgemäß kaum ergründen – abgesehen vielleicht von einem kleinen biografischen Detail, einem fiktiven Renkontre sozusagen: Nietzsches Weg in den Wahn begann in Turin, wo er, der Überlieferung nach, in Tränen ausbrechend einen geprügelten Droschkengaul umarmt haben soll. Das war 1889, unser Künstler war erst ein Jahr alt, aber wer weiß, auf welch geheimnisvollem Wege die Einflüsse reisen … Immerhin aber ist die (in diesem Falle produktive) Spannung augenfällig zwischen dem ausgeprägten, überaus rationalen Raster der Straßenanlage der piemontesischen Hauptstadt und der schockhaften Erfahrung der „schreckliche Leere“ auf den weiten rechteckigen Plätzen der Stadt am Po. Die spielen übrigens Jahrzehnte später noch eine bescheidene, aber nichtsdestotrotz auffällige Rolle in der italienischen Design-Geschichte: Wenn die in Turin ansässigen großen Autodesigner Pininfarina, Bertone und Co. für ihre spektakulärsten Schaustücke einen wirksamen Fotohintergrund suchten, zogen sie noch bis ins frühe 21. Jahrhundert gerne auf die Piazza San Carlo … Wie sagt doch de Chirico: „In Turin ist alles eine Erscheinung.“ [4] Vielleicht wäre diese Erfahrung auf den beengten Plätzen im Gassengewimmel von Lucca oder Siena nicht zu haben gewesen. Hier muss aber, der Vollständigkeit zuliebe, noch ein weiteres Geheimnis der Arkade aufgedeckt werden. Erinnern wir uns, de Chirico verbringt als Student mehrere Jahre in München: Die dortigen Hofgartenarkaden haben möglicherweise auch ihre schlagschattenträchtigen Spuren in der metaphysischen Malerei hinterlassen. Und die sich immer wieder in den Bildraum schiebenden Dampflokomotiven? Zwar hatte de Chirico selbst, bevor er sich der Kunst zuwandte, als sehr junger Mann ein wenig Ingenieurswesen studiert, vor allem aber könnten wir hier an eine Hommage an den Vater denken. Oder doch an die unerbittliche Mechanik des neuen Zeitalters? Mit den Erklärungen ist es so eine Sache, schließlich verkündet der Meister der malerischen Metaphysik knallhart: „Das Genie kann nur von einem Genie erklärt werden“, und lässt wenig Zweifel daran, wer da mit Genie wohl gemeint sein mag … Ohnehin sind für ihren Entdecker diese sonderbaren Plätze mit ihrer gespenstischen Leere keineswegs eine so melancholische Angelegenheit, wie man denken möchte. Ganz im Gegenteil rät der Künstler: „Freuen wir uns, denn es handelt sich um eine heitere Entdeckung.“ [5]

Zurück zur Tradition

Wie dem auch sei, nach dieser überaus produktiven Werkphase vollzieht de Chirico in den 1920ern eine radikale Wende, die ihn, der mittlerweile von den aufgekommenen Surrealisten zu einem ihrer Vorläufer deklariert worden war, mit einem Schlag an den Rand der Szene wirft. Statt Metaphysik und dadaistischen Allotria: „Die neue Kunst hat etwas von einem astronomischen Observatorium, vom Büro einer Finanzdirektion, von der Kabine eines Lotsen. Alles Unnütze ist abgeschafft; aber auf dem Thron befinden sich Gegenstände, welche die universale Blödheit zu den unnützesten zählt. Wenige Dinge. Kleine viereckige (…) Brettchen, die dem erfahrenen Künstler reichen, um das vollkommene Werk zu schaffen“ [6], proklamiert er nun eine Rückkehr zur Tradition, gar zum Akademischen. Beide Positionen, die frühe wie die spätere, kann man gleichermaßen als Ausdruck einer tiefen Krisenerfahrung sehen – und das bringt diesen Künstler uns so nahe. In stilechtem Latein, am Rande eines strengen Selbstporträts im Profil, findet sich im späteren Werk die klare Ansage Pictor classicus sum, ich bin ein klassischer Maler. Das hindert de Chirico freilich nicht, lange später, nach dem Zweiten Weltkrieg, seine inzwischen weltberühmt gewordenen metaphysischen Plätze zu wiederholen: Selbstzitat, Selbstfälschung oder vorweggenommene Postmoderne, schwer zu sagen. Ganz am Schluss aber siegt doch noch die Klassik: Das schlichte Grab des malenden Metaphysikers (er starb 1978 in Rom), in der barocken Kirche San Francesco a Ripa, ziert unter dem Namen zwischen Alpha und Omega nur diese eine Zeile: Pictor optimus, bester Maler. Und der Platz draußen vor der Kirche ist (normalerweise) freundlich belebt.


Auf einen Blick

Ausstellung: De Chirico. Magische Wirklichkeit

Ort: Hamburger Kunsthalle, Stiftung öffentlichen Rechts, Glockengießerwall 5, 20095 Hamburg

Dauer: bis 24. Mai 2021

Internet: www.hamburger-kunsthalle.de

Öffnungszeiten [derzeit temporär geschlossen]

Di–So 10.00–18.00 Uhr, Do 10.00–21.00 Uhr

Katalog

Giorgio de Chirico. Magische Wirklichkeit

Paolo Baldacci, Annabelle Görgen-Lammers für die Hamburger Kunsthalle (Hrsg.), Beiträge von P. Baldacci, C. Girardeau, Annabelle Görgen-Lammers, G. Lista, G. Roos, F. Rovati, geb., 232 S., 186 Abb. in Farbe, 19,5 x 28,5 cm, Hirmer Verlag, ISBN 9783777434742

Medien

Über die Website der Hamburger Kunsthalle sind zahlreiche digitale Angebote abrufbar: Die live gestreamte Ausstellungseröffnung, eine fotografische Dokumentation der Räume, eine Bildergalerie zu ausgewählten Werken und ausführliche Texte, in denen die verschiedenen Ausstellungskapitel vorgestellt werden: www.hamburger-kunsthalle.de. Auf den facebook-, twitter- und Instagram-Kanälen wird ebenso inklusive Clips, GIFs, einem AR-Filter aus Bildelementen von de Chiricos Gemälden und unter den Hashtags #hamburgerkunsthalle; #GiorgioDeChirico und #magischeWirklichkeit vermittelt. In der App der Hamburger Kunsthalle steht u.a. eine Audiotour mit 20 ausgewählten Meisterwerken gratis zum Download bereit. Ein ca. 4-minütiger Film macht unter anderem die besondere räumliche Inszenierung der Ausstellung erfahrbar. Im Rahmen des (Online-)Veranstaltungsprogramms mit Vorträgen, Gesprächen, Konzerten und Seminaren geben u. a. de Chirico-Spezialisten und renommierte Autoren unterschiedliche Perspektiven auf die Ausstellung der Kunsthalle.


[1] Zit. nach Patrick Waldberg: Der Surrealismus, Köln (DuMont) 1965, S. 27.

[2] Ebda.

[3]  Aus: Wir Metaphysiker, in: Giorgio de Chirico Das Geheimnis der Arkade. Erinnerungen und Reflexionen, Schirmer/Mosel 2011, S.111f.

[4]  Ebda., S. 200.

[5] Die Zitate ebda., S. 115, 112.

[6] Ebda., S. 112.

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