Buchtipp

Was ist zeitgenössische Kunst?

Noch nie waren moderne und zeitgenössische Kunst so vielfältig und umfangreich, noch nie waren sie medial so präsent wie in den letzten beiden Dekaden. Vor diesem Hintergrund und angesichts einer nahezu unüberschaubaren Informationsflut geht die Bonner Kunsthistorikerin Anne-Marie Bonnet in ihrem Essay drängenden Fragen nach: Was will die Kunst? Was erwarten wir von ihr? Wo trifft man auf sie? Und warum wird nicht mehr über Inhalte, Formen, Funktionen von Kunst und deren Rolle in der Gesellschaft gesprochen, sondern fast nur noch über deren finanziellen Wert?

Das Wechselverhältnis von Kunst, Markt und Museum beschäftigt vor allem Feuilletons und neue Medien. Mit Superlativen gespickte Berichte über Auktionsergebnisse, eine Fülle an Messe-Events und neuen Museumsbauten sowie eine Flut an Literatur, die sich als helfender Begleiter durch den Kunstbetrieb versteht, münden in einer Unübersichtlichkeit und eröffnen viele Fragen: Wie fallen die Erwartungshaltungen an die Kunst aus? Warum ist es ihr finanzieller Wert, der mehr und mehr ins Zentrum des gesellschaftlichen Interesses rückt? Und wer schreibt eigentlich die Kunstgeschichte der Moderne? Seit wann und wozu? All dies ergründet der vorliegende Essay, indem er den Zweifel als Antrieb zur Erkenntnis für sich nutzt. Aus der Position der Kunstgeschichte und der einer kritischen Zeitgenossenschaft bezieht Anne-Marie Bonnet Stellung. „Natürlich“, so die Autorin im Vorwort zu ihrem Text, ist es „nicht Aufgabe der Kunstgeschichte, zu bestimmen, was ‚Kunst sei‘. Vielmehr geht es darum, die Geschichte der sich wandelnden Vorstellungen davon nachzuvollziehen, was ‚als Kunst betrachtet‘ wird. Will man das Spezifische der Kulturtechnik ‚Kunst‘ verstehen, muss man jenseits ihrer Formen und Inhalte verfolgen, wie sich Status, Funktionen, Orte und Möglichkeiten verändern, Kunst zu produzieren und zu rezipieren.“

Oder: Wozu Kunstgeschichte?

In 49 Sinnabschnitten liefert Anne-Marie Bonnet keine Thesen oder Erklärungen, sondern erprobt verknüpfende Beobachtungen und diagnostische Umschreibungen. Die Autorin erinnert an die facettenreiche Ideen-, Wissens- und Institutionengeschichte der Kunst sowie an die sich ändernden Bedingungen ihrer Produktion, Distribution und Rezeption. In ihren Schlaglichtern und skizzenhaften Vereinfachungen hinterfragt sie tradierte Vorstellungen und riskiert neue Blicke auf vermeintlich Vertrautes. Künstlerische Positionen vermögen eine Weltverfasstheit und eine Seinsweise zu artikulieren, zu kritisieren bzw. zu erfinden, die abseits der allgegenwärtigen Bilder der Arbeits- und Konsumwelt andere Perspektiven eröffnen. Anne-Marie Bonnet gelingt anhand konkreter Fall- und Werkbeispiele eine Bilanz der gegenwärtigen Verfasstheit der Kunstwelt. Behandelt werden neben einschlägigen Namen wie Gerhard Richter, Marina Abramović , Damien Hirst oder Tino Sehgal viele noch unbekannte und jüngere Künstlerinnen und Künstler, beabsichtigt die Autorin doch auch zu zeigen, dass Relevanz nichts mit Marktwert zu tun hat. „Kunst kann die Welt nicht verändern“, zitiert Anne-Marie Bonnet den Kurator Okwui Enwezor, „aber sie kann uns Möglichkeiten geben, die Welt neu zu denken.“ In diesem Sinne, so beendet die Autorin ihre Überlegungen, bietet die zeitgenössische Kunst auch keine Antworten, sondern wirft weitere Fragen auf. „Sie schärft unsere Wahrnehmung für unser Dasein und Sosein in der Welt. Und wer möchte sich diese Herausforderung und Möglichkeit zu kritischer Zeitgenossenschaft entgehen lassen (…)?“

 

Die Autorin

Anne-Marie Bonnet ist seit 1997 Professorin für Neuere und Mittlere Kunstgeschichte am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn.

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