Ausstellung

Farbenprächtige Verheißungen

Wayne Thiebaud in der Fondation Beyeler

Er lotete die Möglichkeiten des malerischen Ausdrucks an der Grenze zwischen sichtbarer und imaginierter Welt aus und schuf so eine ganz eigene Bildsprache, die zwischen Ironie, Witz, Nostalgie und Melancholie changiert: Wayne Thiebaud (1920–2021) gehört zu den führenden Vertretern der amerikanischen figurativen Kunst und steht damit in der Tradition von Malern und Malerinnen wie Edward Hopper und Georgia O’Keeffe. In seinen Stillleben mit Alltagsgegenständen beschwor er in betörenden Pastelltönen die Verheißungen des „American Way of Life“. Gleichzeitig bezeugen seine Porträts, multiperspektivischen Stadtansichten und Landschaften die Vielseitigkeit des technisch brillanten Malers, der in Europa bislang weitgehend unbekannt ist. Diesem Umstand abzuhelfen hat sich die Fondation Beyeler im schweizerischen Riehen auf die Fahnen geschrieben und widmet dem außergewöhnlichen Künstler derzeit die erste Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum.

„Humor stand mehr oder weniger immer im Zentrum fast aller meiner Arbeiten.”
Wayne Thiebaud (1920–2021)

Wayne Thiebaud wurde am 15. November 1920 in Mesa, Arizona, geboren und wuchs hauptsächlich im kalifornischen Long Beach auf. Seine Vorfahren gehörten zu den ersten Siedlern mormonischen Glaubens, die sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts in Utah niederließen. Zu Zeiten der Wirtschaftskrise zog Thiebaud mit seiner Familie vorübergehend zurück nach Utah, wo sie Landwirtschaft betrieb. Ab 1935 besuchte er die Highschool, auf der er schon seine Mitschüler*innen und Lehrer*innen karikierte. Früh entdeckte er sein Interesse für Comics und Zeichentrickfilme, im Sommer 1936 arbeitete er kurzzeitig in der Trickfilmabteilung der Walt Disney Studios – dort lernte er unter anderem, Mickey Mouse zu zeichnen. Während seines Diensts beim Militär gestaltete er die Comicserie Aleck für das Mitteilungsblatt seines Stützpunkts und entwarf Poster und Wandbilder. Diese Zeit markiert den Beginn seiner Karriere als Maler. Von 1949 bis 1953 studierte Thiebaud Kunst an der San José State University und der California State University in Sacramento. Dort spielte er auch Tennis, eine Leidenschaft, die ihn sein Leben lang begleiten sollte. Noch während des Studiums wurden seine Werke 1951 in einer Einzelausstellung in der Crocker Art Gallery in Sacramento gezeigt, im gleichen Jahr nahm er einen Lehrauftrag am Sacramento City College an. Bei einem Aufenthalt in New York in den 1950er-Jahren lernte er Willem und Elaine de Kooning kennen; 1962 stellte Thiebaud erstmals seine Werke in der renommierten New Yorker Allan Stone Gallery aus. Zehn Jahre später zeigte Harald Szeemann seine Arbeiten auf der wegweisenden Documenta 5 in Kassel. Auch als Professor für Malerei genoss Thiebaud einen ausgezeichneten Ruf. Er bildete Generationen von Künstlern und Künstlerinnen aus, darunter Bruce Nauman, der zeitweise sein Assistent war. 1978 präsentierte das San Francisco Museum of Modern Art die Ausstellung „Wayne Thiebaud: Recent Work“. Das Whitney Museum in New York widmete Thiebaud 2001 eine Retrospektive.

Thiebaud bewegte sich abseits der großen Kunstmetropolen und malte unabhängig von den jeweils vorherrschenden Kunstbewegungen. Aufgrund seines Interesses an Objekten der Populärkultur wird er oft der Pop-Art zugerechnet – eine Einordnung, der er sich selbst jedoch stets verweigerte: „Ich sah mich nicht als ein Pop-Künstler. Ich habe mich also aus meiner Sicht weiterhin mit Problemen befasst, die mir im Grunde wie formal realistische Probleme erschienen, auch wenn es sich dabei um geläufige Objekte handelte“, betonte er. In Anbetracht seiner eigenen Sichtweise auf die Ästhetik der Massenproduktion und seines Fokus auf die Malerei kann Thiebaud wohl eher als ein Vorläufer der Pop-Art eingestuft werden. Er selbst bezeichnete Diego Velázquez, Paul Cézanne, Henri Rousseau und Piet Mondrian als Vorbilder, war aber als Cartoonist auch stark durch Werbegrafiker und Plakatmaler beeinflusst.

Viele den amerikanischen Lebensstil widerspiegelnde Motive aus dem Alltag, von Kaugummiautomaten über farbenprächtige Torten und in sich verschlungene Autobahnstraßen, oft in das Sonnenlicht der Westküste getaucht, finden sich in Thiebauds Gemälden. Auf den ersten Blick erscheinen seine Bilder geradezu plakativ und selbsterklärend. Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch bald fest, dass sie über eine weitere Ebene verfügen: So setzen sich die Kompositionen aus schier unzähligen Kombinationen oft intensiv leuchtender Farben zusammen, die das Motiv in den Hintergrund treten lassen. Für den Maler waren die Grenzen zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit fließend, indem er durch den gezielten Einsatz der Farbe das Motiv einem Abstraktionsprozess unterzog. Im Vordergrund seines Interesses standen vielmehr die Möglichkeiten der Malerei und insbesondere der Farbe. „Ich versuche immer, jede Farbe in möglichst vielen verschiedenen Bereichen des Bildes einzusetzen“, so Thiebaud, „denn so entsteht eine Art Aura, fast so etwas wie ein Sonnen- oder Regenbogeneffekt.“

Die Ausstellung präsentiert in einzelnen Themen gewidmeten Räumen Thiebauds wichtigste Werkgruppen. Dazu gehören seine Stillleben, Figurenbilder, Stadtansichten und Flusslandschaften. Den Auftakt bilden drei seiner Schlüsselwerke: Student (1968), 35 Cent Masterworks (1970) und Mickey Mouse (1988), die seine Verbundenheit mit der frühen amerikanischen Popkultur zeigt. Die Comicfigur Mickey Mouse ist gewissermaßen der Gegenentwurf zum traditionellen westlichen Kanon der Kunst und verkörpert gleichsam die Quintessenz des „Pop“. Mit Student wiederum führte Wayne Thiebaud die Prinzipien der Porträtmalerei exemplarisch vor Augen: Zu sehen ist eine junge Frau, die den Betrachtenden auf einem Stuhl gegenübersitzt und diese intensiv anzuschauen scheint. Trotz ihres fixierenden Blicks verschwimmt ihre Individualität bei genauerem Hinsehen, die Wirkung der Farben überlagert die Wahrnehmung ihrer Person. Dieser distanzierte Eindruck verstärkt sich, je mehr man sich dem Bild nähert: Jegliche individuellen Züge der jungen Frau scheinen sich in Myriaden von Kombinationen strahlender Farben aufzulösen. Um Persönlichkeiten anderer Art geht es in 35 Cent Masterworks, in dem Thiebaud seine künstlerischen Vorbilder versammelt hat. Fein säuberlich arrangiert stehen dort zwölf bedeutende Werke der Kunstgeschichte in einem Zeitschriftenregal. Mondrians Tableau No. IV, Monets Seerosen und Picassos Nature morte à la guitare sind wie alle anderen Bilder für nur 35 Cent erhältlich, wie ein Preisschild verrät. Thiebaud, ein Kenner der Kunstgeschichte, hinterfragt in seinem Gemälde den „Wert“ der Meisterwerke, die er eigentlich bewundert, auf humorvolle Art, und thematisiert zugleich das Verhältnis von Original und Reproduktion.

Ein ganzer Raum der Ausstellung ist der wohl bekanntesten Werkgruppe, den Stillleben, gewidmet. In allerlei Auslagen und auf Tellern hübsch präsentiert, reihen sich süße Leckereien aneinander. Spielzeuge, Stofftiere und Eiscreme-Waffeln erinnern an die größten Versuchungen aus Kindertagen. Pie Rows (1961) zeigt verschiedene solcher Kuchenstücke, die sich neben- und hintereinander zu einem Muster fügen. In ihrer süßen Verführungsmacht haben sie eine ebenso beruhigende wie überwältigende Wirkung auf die Betrachtenden. Thiebaud gelingt es so, die vermeintliche Harmlosigkeit der verbildlichten Lebensmittel und Gegenstände zu entlarven und diese in ihrer Verfügbarkeit als bedeutende Elemente von Konsumverhalten kenntlich zu machen. Über seine Kuchenbilder war Thiebaud offenbar letztlich selbst mitunter erstaunt. Er erinnerte sich daran mit seinem ganz eigenen Humor: „‘Mal sehen, ich habe in vielen Restaurants gearbeitet und habe reihenweise Kuchen und anderes gesehen.‘ Mit diesen Ovalen und Dreiecken habe ich also ganz elementare Kuchen produziert. Am Anfang bin ich es ganz schlicht angegangen, und ich habe nicht erkannt, was ich da getan hatte … Es war diese Reihe an Kuchenbildern entstanden und ich war selbst verblüfft. Ich habe mir buchstäblich gedacht, ‚Das wäre das Ende für einen seriösen Maler.“

In einem weiteren Raum sind Spielautomaten das Hauptmotiv. Jackpot (2004) präsentiert einen sogenannten „Einarmigen Banditen“, der für kleines Geld die Chance auf den Hauptgewinn verheißt. Ähnlich wie die Kuchen lockt auch dieses Stillleben mit heimlichen Glücksgefühlen. Daneben gewähren spiegelnde Farbtöpfe mit herabtropfender Farbe und bunte Pastellkreiden, die den Abschluss des Themenkreises „Stilleben“ markieren, einen fast intimen Einblick in ein weiteres Sujet: den Arbeitsalltag des Künstlers und seine Malutensilien. In Thiebauds Figurenbildern bleibt die Nähe zu seinen Stillleben weiterhin sichtbar, die Personen wirken zwar realistisch erfasst, posieren aber in ungewöhnlichen, statischen Körperhaltungen – in der Badewanne bis zum Kopf versunken, in Badeanzügen neben einander kniend oder Eiscreme essend. Girl with Pink Hat (1973) orientiert sich an prominenten Bildnissen der Renaissance etwa eines Sandro Botticelli oder eines Giorgione. Doch im Unterschied zu diesen lassen Komplementärkontraste und leuchtend farbige Konturen das „Mädchen mit dem pinken Hut“ erstrahlen. Eating Figures (1963) dagegen ist jene Komik unterlegt, die man in vielen von Thiebauds Bildern vorfindet: Ein Mann im Anzug und eine Frau im Kleid sitzen auf Barhockern sehr eng nebeneinander und blicken scheinbar lustlos auf ihre Hotdogs, die sie in den Händen halten. Der Heißhunger auf Fast Food und der Genuss des beliebten Imbisses wird hier mit den Mitteln der Ironie ad absurdum geführt.

Weniger bekannt sind Thiebauds Bilder von Städten und Landschaften. Rock Ridge (1962) und Canyon Mountains (2011/12) zeigen steile Felswände, die von Hochplateaus abfallen, auf denen sich zuweilen detailliert gemalte Landschaften erstrecken. In den 1960er-Jahren begann Wayne Thiebaud erste Landschaftsbilder zu malen. Dabei konzentrierte er sich auf atemberaubende Darstellungen von San Francisco, abgeflachte Vogelperspektiven auf das Flussdelta des Sacramento River und wuchtige Panoramen der Berge und Gebirgsketten der Sierra Nevada. Die gemalten Abgründe vermitteln den Eindruck, als ob man in die Abgründe der Farben stürze. Für seine Stadtansichten liess sich Thiebaud maßgeblich von San Francisco inspirieren. Die Stadt mit ihren achterbahnartigen Steigungen und steilen Straßen hat er auf fantasievolle Weise mittels starker Kontraste und von Diagonalen beherrschter Kompositionen verbildlicht. Schwindelerregend sind die Straßenzüge in die Höhe gekippt, sie versetzen die Betrachtenden in atemloses Staunen und regen dazu an, darüber nachzusinnen, ob sie überhaupt begeh- oder befahrbar sind. Es sind symbolhafte Bilder der zeitgenössischen US-amerikanischen Stadtlandschaft, die von einem dicht ausgebauten Straßennetz und von Ballungszentren geprägt ist und wo selbst noch die unwirtlichste Natur vom Menschen technisch erschlossen wird und trotzdem seltsam entleert wirkt. Die später entstandenen Gemälde Ponds and Streams (2001), Flood Waters (2006/2013) oder auch White Riverscape (2008–2010) wiederum zeigen künstliche Seen und Flusslandschaften. Ab den 1990er-Jahren ließ sich Wayne Thiebaud von landwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen in der Nähe seines Wohnorts Sacramento zu einer Reihe von panoramaartigen Motiven inspirieren. Ponds and Streams präsentiert eine typische nordkalifornische Kulturlandschaft, fernab der touristisch bekannteren Gegenden. Die Felder, Baumgruppen und Wasserreservoirs geben die Topografie nicht exakt wieder. Sie fügen sich vielmehr zu einer bruchstückhaften, sich aus zahlreichen Erinnerungen speisenden Komposition, die durch die Verwendung der Pastellfarben verfremdet erscheint.

In seinen Werken hat Thiebaud die Eindrücke seines Lebens verarbeitet. Auf einzigartige Weise erweckt er mit seinen flimmernden Farbwelten, harmonisch wirkenden Kontrasten und vibrierenden Linien Torten, Landschaften und Menschen zum Leben. Obwohl die Motive gleichsam humorvoll und ironisch anmuten – wie Comics regen sie zum Schmunzeln an, unterhalten oder bringen das kindliche Staunen zurück –, bergen Thiebauds Bilder etwas Nostalgisches und Melancholisches in sich. Nach den ersten Glücksgefühlen beim Anblick der prächtigen Bäckereiauslagen oder Stofftier-Regale mischt sich mitunter ein Anflug von unerwarteter Traurigkeit in die Betrachtung – eine Sehnsucht nach einer vergangenen Welt oder einer längst verflossenen Liebe. Über diese nostalgische Anwandlung hinausgehend, können Thiebauds Bilder aber durchaus auch Gefühle der Beklemmung auslösen, die sich an der Künstlichkeit seiner Stillleben, Figuren und Landschaften entzünden. Gerade angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen in der heutigen Zeit fällt die Absenz des Natürlichen und des Gesunden in den Darstellungen ins Auge, sodass Thiebauds Bildwelten trotz all ihrer Verheißungen und ihrer Farbenpracht durchaus auch als künstliche, einsame Orte wahrgenommen werden können.

Wayne Thiebaud malte bis an sein Lebensende. Aus Anlass seines 100. Geburtstags widmete ihm das Crocker Art Museum 2021 die Ausstellung „Wayne Thiebaud 100: Paintings, Prints and Drawings“. Er starb am 25. Dezember 2021 im Alter von 101 Jahren in Sacramento.

 

 

INFORMATIONEN

Bis 21. Mai 2023
Wayne Thiebaud

KATALOGWayne Thiebaud Ulf Küster für die Fondation Beyeler, Riehen / Basel (Hrsg.), Texte von Janet Bishop, Jason Edward Kaufman, Ulf Küster, Charlotte Sarrazin, dt., Steif broschur, 160 S. mit 156 Abb., 23,5 x 32 cm, Hatje Cantz, ISBN 9783775754019

Wayne Thiebaud
Ulf Küster für die Fondation Beyeler, Riehen / Basel (Hrsg.), Texte von Janet Bishop, Jason Edward Kaufman, Ulf Küster, Charlotte Sarrazin, dt., Steif broschur, 160 S. mit 156 Abb., 23,5 x 32 cm, Hatje Cantz, ISBN 9783775754019

KONTAKT

Fondation Beyeler
Beyeler Museum AG
Baselstrasse 101
CH-4125 Riehen
Tel. +41-61-6459700
www.fondationbeyeler.ch

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Profile

Die Fondation Beyeler ist ein Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, das 365 Tage im Jahr geöffnet ist. Es gilt als eines der schönsten weltweit. Insbesondere mit seinen Ausstellungen renommierter Künstler des 19., 20. und 21. Jahrhunderts hat es sich internationale Anerkennung erworben und als meistbesuchtes Kunstmuseum der Schweiz etabliert. Im Mittelpunkt stehen das persönliche Erlebnis und die sinnliche Erfahrung des Besuchers in der Begegnung mit Kunst und Natur.

Foto: Mark Niedermann

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