Ausstellung

Lebensraum Straße

Die Fotografie-Ausstellung „Menschen auf der Straße“ im Märkischen Museum Witten konzentriert sich inhaltlich auf die Straße als Lebensraum und Ort für soziale Interaktion. Sie ist Austragungsort für Performance und politische Motiviertheit. Auf ihr ist die Vielschichtigkeit menschlicher Existenz erlebbar und wird somit Spiegel der Gesellschaft. Die Schau präsentiert insgesamt 19 Künstlerinnen und Künstler, die sich mit den verschiedenen Inhalten befassen. Das thematische Zentrum stellen die Jugendlichen und Obdachlosen dar, die die Straße als Lebensmittelpunkt und Ort des Überlebens dringend benötigen.

Betreten die Besucherinnen und Besucher den Sammlungsbereich des dreischiffigen Altbaus des Museums, werden sie zunächst mit verschiedenen eindeutigen und assoziativen Themen der Straßenfotografie konfrontiert. Neben Werken von Katharina Bosse, die die schrille Queer- und Genderkultur auf der Straße in den Fokus nimmt, verweist Sebastian Riemer mit seiner stillen Darstellung auf die menschlichen Spuren, die Passant*innen durch ihr „Gekritzel“ auf Wänden und Zäunen hinterlassen haben. Der ukrainische Künstler Alexander Chekmenev zeigt das harte Leben auf den Straßen der Bevölkerung in der Donbass-Region. Im Gegenzug werden Videoarbeiten und Fotografien von Gudrun Kemsa ausgestellt, die den geschäftigen und flüchtigen Alltag New Yorker Bürgerinnen in der Underground-Station oder vor Designerstores zeigen. Nachdenklich stimmen die Fotografien von Eva Rubinstein, von der unter anderem eine Aufnahme einer menschenleeren, spätgotischen Passage in Jerusalem ausgestellt ist. In diesem Werk ist einerseits die historische Präsenz der Passanten und Individuen spürbar. Andererseits verdeutlicht es die Unfassbarkeit des Flüchtigen und Historischen. So wie der Mensch den architektonischen und städtischen Raum benötigt, brauchen auch die Gebäude den Menschen.

Wendet man sich dem Mittelschiff zu, fällt der Blick im mittleren großen Raum auf eine umfangreiche Gruppe Schwarz-Weiß- Fotografien von Toby Binder. Er präsentiert Auszüge aus seiner Langzeitdokumentation # 53 kids (2021/2022). Während der Pandemie litten besonders junge Menschen aus sozial benachteiligten Stadtteilen unter den Lockdown-Maßnahmen. Binder dokumentiert und reflektiert fotografisch das Leben von Jugendlichen und wirft Fragen auf zur sozialen Ungerechtigkeit, zu Identität und Zugehörigkeit. Ihr wichtigster Ort und Lebensraum ist die Straße, ein Ort des Austauschs und der Selbstdarstellung. Während die Jugendlichen oft weder das Heimatland ihrer Eltern kennen, noch sich in Deutschland akzeptiert fühlen, nutzen sie die Ziffern 053, die Postleitzahl von Duisburg-Hochfeld, zur Identifikation: die # 053 kids. Das stetig weitergeführte Fotografieprojekt besteht aus erzählerischen Reportagebildern und eindringlichen Porträts. Darüber hinaus werden sehr konkret, aber auch aus einer subtilen Perspektive Themen künstlerisch beleuchtet, die die Straße als Lebens- und Aktionsort betreffen. Eingefasst wird der Fotografieblock im Mittelraum von einer besonderen Auswahl von Werken internationaler und fotografiehistorisch bedeutsamer Künstlerinnen und Künstler, die auf die Vielschichtigkeit in Inhalt und Erzählung der Straße als sozialer Raum hinweisen. In der umfangreichen Serie Protest the War (2006/2007) porträtiert die amerikanische Fotografin Judith Joy Ross Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Sozialisierung, die gemeinsam auf die Straße gegangen sind, um gegen den Krieg im Irak zu protestieren. Seit Anfang der 1980er-Jahre widmet sich die Künstlerin der Porträtfotografie mit einfühlenden, authentischen Bildern von Menschen aus der Mitte der amerikanischen Gesellschaft. In direkter Nachbarschaft befinden sich Werke der Künstlerin Helen Levitt, die zu den herausragendsten Künstlerinnen der New Yorker Street Photography gehört. Ihre ikonischen Fotografien spielender Kinder auf der Straße sind weltweit bekannt und in den wichtigsten Kunstsammlungen vertreten. Im hinteren Seitenschiff ist die vielteilige Arbeit Obdachlose fotografieren Passanten (2004) erlebbar. Thomas Struth, Initiator und Betreuer des Fotografieprojektes, lässt Menschen von der Straße fotografisch ihre Umgebung analysieren und somit deren Interaktion durch die Kamera festhalten. Die Ergebnisse der Expedition sind so unterschiedlich wie die Lebensgeschichten der Beteiligten. Sie geben viele Details über die Verletzlichkeit in der Peripherie preis, ohne düster oder deprimiert zu wirken. In diesen Arbeiten wird eine andere, sehr individuelle Wirklichkeit aufgezeigt, die wir als gewöhnliche Passanten vielleicht nicht wahrnehmen können. Den Abschluss der Ausstellung bildet eine von Valie Export und Peter Weibel gemeinsam geschaffene Videoarbeit, die die Künstlerin zeigt, wie sie ihren Partner an einer Leine durch die Wiener Innenstadt führt und offenbar Anweisungen gibt. Diese in Fotografie und Video festgehaltene Performance zeigt die Straße als öffentlichen Ort für Kunst und Provokation sowie Setzung gesellschaftlicher Themen.

Künstler*innen: Toby Binder (*1977, DE), Werner Bischof (1916–1954, CH), Katharina Bosse (*1968, FI), Alexander Chekmenev (*1969, UA), EXPORT/Weibel (*1940, AT/ *1944, UA/AT), Gudrun Kemsa (*1961, DE), Helen Levitt (1913–2009, US), Herbert List (1903–1975, DE), Valérie Jouve (*1964, FR), Will McBride (1931-2015, US), Duane Michals (*1932, US), Stefan Moses (1928–2018, PL/DE), Tod Papageorge (*1940, US), Sebastian Riemer (*1982, DE), Judith Joy Ross (*1946, US), Eva Rubinstein (*1933, PL/US), Christer Strömholm (1918–2002, SE), Thomas Struth (*1954, DE), Ira Vinokurova (*1975, RU)


Auf einen Blick

 

Ausstellung: Menschen auf der Straße – Fotografie

Ort: Märkisches Museum Witten, Husemannstraße 12, 58452 Witten

Dauer: bis 10. Juli 2022

Internet: https://www.kulturforum-witten.de/maerkischesmuseumwitten/

Öffnungszeiten: Mi–So 12.00 bis 18.00 Uhr

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Profile

Das Märkische Museum Witten verfügt über eine Sammlung mit rund 5.000 Werken deutscher Malerei und Grafik des 20. Jahrhunderts. Einen Schwerpunkt bildet das deutsche Informel. Die wichtigsten Protagonisten, wie zum Beispiel K.O. Götz, Peter Brüning, Winfred Gaul, Gerhard Hoehme, Emil Schumacher, Fred Thieler und viele andere, sind in der Sammlung vertreten. Das Museum spiegelt die Entwicklungen der Abstraktion in der Kunst in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wider. Ein ausgesuchter Bestand an Werken der Expressionisten bildet den Grundstock der Sammlung. Neben den wechselnden Sammlungspräsentationen stellen die Ausstellungen zeitgenössischer Kunst einen weiteren Schwerpunkt des Hauses dar. Hierbei werden aktuelle Entwicklungen der deutschen und internationalen Gegenwartskunst vorgestellt.

[Foto: Jörg Fruck]

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