Ausstellung

Mechanik und Menschlichkeit

Zum 100. Geburtstag von Eva Aeppli und Jean Tinguely

Im Fokus steht das spannungsreiche Verhältnis zwischen Mensch und Maschine: Das Lehmbruck Museum präsentiert anlässlich des 100. Geburtstags die weltweit erste umfassende Ausstellung zu Jean Tinguely (1925–1991) und Eva Aeppli (1925–2015). Der Lehmbruck-Preisträger Jean Tinguely, bekannt für seine kinetischen Skulpturen und seinen innovativen Umgang mit gefundenen Materialien, trifft auf Eva Aeppli, eine Künstlerin, die es mit ihren handgenähten Figuren vermag, eine berührende Menschlichkeit einzufangen.

Eva Aeppli, La Table / Die Tafel, 1965–67 Moderna Museet, Stockholm, © Susanne Gyger, Luzern, Foto: Christoph Reichwein

Eva Aeppli, La Table / Die Tafel, 1965–67 Moderna Museet, Stockholm
© Susanne Gyger, Luzern, Foto: Christoph Reichwein

Der Titel der Ausstellung „Mechanik und Menschlichkeit“ wirft eine vermeintlich einfache Frage auf: Kann eine Maschine menschlich sein? Wieviel Menschliches ist in einer Maschine und wie viel Maschinelles ist dem Menschen eigen? Diese vertrackte Beziehung prägt unsere Gesellschaft bis heute. Angesichts der Vernichtungsmaschinerien der beiden Weltkriege bekommen diese Themen im Europa der Nachkriegszeit (und auch heute wieder) eine besondere Brisanz. Was macht den Menschen aus, dem auch eine zerstörerische Unmenschlichkeit zu eigen ist?

Eva Aeppli, Jean Tinguely, Erste Hexe, 1990–91 Galerie Michael Haas, © Susanne Gyger, Luzern, VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Eva Aeppli, Jean Tinguely, Erste Hexe, 1990–91 Galerie Michael Haas
© Susanne Gyger, Luzern, VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Eva Aeppli und Jean Tinguely werden beide 1925 in der Schweiz geboren (Aeppli am 2. Mai in Zofingen, Tinguely am 22. Mai in Freiburg im Üechtland). Sie wachsen in Basel auf und lernen sich Mitte der 1940er-Jahre auf der Kunstgewerbeschule kennen. Sie verbringen rund zwölf Jahre ihres Lebens zusammen – wichtige Jahre ihrer künstlerischen Entwicklung, die ihr weiteres Leben und Schaffen prägen. Entscheidend für ihr Werk ist der gemeinsame Umzug nach Paris im Jahr 1953: In dieser Zeit entfaltet sich ihr rebellischer Sinn, mit dem sie Kunst und Gesellschaft verändern. Es entstehen Tinguelys ikonischen Maschinenskulpturen, für die er weltweit bekannt wird. Zeitgleich entwirft Aeppli ihre feingearbeiteten Stofffiguren, die in der Kunstgeschichte ohne Vorbild sind. Sie zeigen die außergewöhnliche Fähigkeit der Künstlerin, Komik und tiefen Ernst miteinander zu verbinden. So spiegeln sie die innere Zerrissenheit des Menschen zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Sowohl Aeppli als auch Tinguely, die von 1951 bis 1960 verheiratet waren, verarbeiten in ihren Werken die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und rebellieren gegen die Macht der Maschinen, die unser Leben bestimmen.

Jean Tinguely, Méta-Matic No. 10, 1959 Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle/Ein Kulturengagement von Roche © VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Jean Tinguely, Foto: Christoph Reichwein

Jean Tinguely, Méta-Matic No. 10, 1959 Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle/Ein Kulturengagement von Roche
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Jean Tinguely, Foto: Christoph Reichwein

1953 zieht das Paar nach Paris in ein Atelier in der heute legendären Künstlerkolonie Impasse Ronsin im Quartier Montparnasse. In der pulsierenden Kunstszene der Metropole beginnt Tinguely, kleine Motoren in seine Werke zu integrieren. Aeppli fertigt in dieser Zeit ihre ersten selbstgenähten Handpuppen. Tinguely erinnert sich später, wie sehr sie ihn in dieser frühen Zeit antrieb: „Ohne Eva Aeppli, meine erste weibliche Kollegin und meine erste Gattin, hätte ich nie funktioniert“, „Die Begegnung mit Eva war […] für mich entscheidend: Diese Frau hat mich einfach geführt, sie hat es verstanden, mich aus mir selbst herauszuholen, mich zu strukturieren.“

Eva Aeppli, Aurevoir/Auf Wiedersehen, 1962 Galerie Michael Haas, © Susanne Gyger, Luzern, Foto: Christoph Reichwein

Eva Aeppli, Aurevoir/Auf Wiedersehen, 1962 Galerie Michael Haas
© Susanne Gyger, Luzern, Foto: Christoph Reichwein

1954 finden ihre ersten Ausstellungen in Paris statt. Für Tinguely markiert dies den Beginn einer großen Karriere. Mit seinen Maschinenskulpturen aus gefundenen Materialien und Schrott definiert er die Regeln der Kunst neu. Seine Werke wachsen schon bald ins Monumentale und durchbrechen die Grenzen zur Alltagswelt. 1976 erhält Jean Tinguely in Duisburg den Wilhelm-Lehmbruck-Preis für sein künstlerisches Werk, mit dem er die Beziehung zur Maschine verändert und „menschlicher“ gemacht hat. „Tinguely hat mit seiner Kunst die Betrachtenden bewegt. Für ihn und seine Generation war zentral, dass ihre Kunst in die Breite wirkt; es ging ihm um gesellschaftlich relevante Kunst. Tinguely hat viele zeitlose, im Alltag bedeutsame Themen bearbeitet – das Verhältnis Mensch und Maschine, Zeitlichkeit, die Rolle des Zufalls und die Bedeutung des Spiels, Sinnlichkeit, Konsumkritik, Leben und Tod“, so Roland Wetzel, Direktor des Museum Tinguely in Basel. „Es sind alles Themen, die eine wunderbare Basis bieten für ein aktuelles und zukunftsweisendes Programm am Museum Tinguely. Moving Art ist unsere Kernkompetenz.“

Eva Aeppli, Groupe de 48/48erGruppe, 1969–70 Moderna Museet, Stockholm, © Susanne Gyger, Luzern, Foto: Christoph Reichwein

Eva Aeppli, Groupe de 48/48erGruppe, 1969–70 Moderna Museet, Stockholm
© Susanne Gyger, Luzern, Foto: Christoph Reichwein

Mitte der 1960er-Jahre entstehen die ersten lebensgroßen Stofffiguren von Eva Aeppli. Technisch sind sie eine Weiterentwicklung ihrer frühen Handpuppen, künstlerisch entfalten sie eine völlig neue Wirkung. Die seidenen Köpfe formt Aeppli zu plastischen Objekten und verleiht ihnen durch feine Nähte einen besonderen Ausdruck. Nach ihren Einzelfiguren entstehen ganze Gruppen, die entweder auf Stühlen sitzen oder frei im Raum stehen. Ihre monumentalste Installation Groupe de 48 (48er-Gruppe, 1969/70) besticht durch ihre ergreifende Präsenz: Die lebensgroßen Figuren, in schwarze, samtene Gewänder gehüllt, erheben sich kraftvoll im Raum. Sie formieren sich zu einer Einheit, die ein gemeinsames Ziel verfolgt. Die theatrale Installation hat die ästhetische Kraft, zum ikonischen Ausdruck der Nachkriegszeit zu werden. Denn in ihr spiegelt sich Widerstand und Rebellion. Sie steht beispielhaft – gleichwohl einzigartig in ihrer Form – für die Aufbruch- und Protestbewegung der späten 1960er-und 1970er-Jahre, für die Auflehnung gegen die verbliebenen Strukturen des totalitären Regimes und gegen eine Geisteshaltung, die zu Gewalt und Unterdrückung führt.

Jean Tinguely, Miostar No. 2, 1974 Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle/Ein Kulturengagement von Roche © VG Bild-Kunst, Bonn 2025 /Jean Tinguely, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Jean Tinguely, Miostar No. 2, 1974 Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle/Ein Kulturengagement von Roche
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025 /Jean Tinguely, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Ein Höhepunkt der Ausstellung sind die Gemeinschaftswerke von Eva Aeppli und Jean Tinguely, die bislang kaum bekannt sind. 1990 schaffen die beiden 13 großformatige Installationen, die die mechanischen Skulpturen Tinguelys mit den ausdrucksstarken Figuren Aepplis verbinden. Unter dem Titel „Collaboration“ wurden sie 1991 in der Baseler Galerie Littmann präsentiert. Es sind fantastische Maschinenwesen, in denen sich ihr Sinn für das Groteske und das Makabre entfaltet. Inspiriert vom Ausnahmezustand der Fasnacht inszenieren Aeppli und Tinguely das Schaurige, das uns in den Bann zieht, und hebeln es mit Humor gemeinsam aus. In ihrem Gemeinschaftswerk trifft sich das Vergnügen an der Revolte und dem Rebellischen, das beide miteinander teilen. Ihr spätes Gemeinschaftswerk, das kurz vor dem Tod Tinguelys entsteht, ist Ergebnis ihres unbändigen Freiheitswillens.

Eva Aeppli, Jean Tinguely, Kerzenhalter mit drei Larven, um 1990 Kunstmuseum Solothurn, Schenkung Josef Imhof und Ursula Winkler Imhof, © Susanne Gyger, Luzern, VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Eva Aeppli, Jean Tinguely, Kerzenhalter mit drei Larven, um 1990 Kunstmuseum Solothurn, Schenkung Josef Imhof und Ursula Winkler Imhof
© Susanne Gyger, Luzern, VG Bild-Kunst, Bonn 2025, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

„In ihrem Vergnügen an der Revolte und dem Rebellischen treffen sich die Werke von Eva Aeppli und Jean Tinguely. Eros und Thanatos – der Lebenstrieb und der Todestrieb gehen in ihrem Gemeinschaftswerk eine seltene Allianz ein“, unterstreicht Dr. Söke Dinkla, Direktorin des Lehmbruck Museums. Mit ihren Werken überschreiten sie Grenzen – die Grenzen der Kunst, die Grenzen der bürgerlichen Konventionen und die Grenzen des sogenannten „guten Geschmacks“. In ihrer Gratwanderung zwischen Jahrmarktästhetik und Kunst nehmen sie sich jede Freiheit. Die mit Menschen bestückten Apparate stehen paradigmatisch für die Freiheit, sich über den Tod lustig zu machen.

Eva Aeppli, Die Planeten (zehnteiliger Zyklus) Sonne; Mond; Merkur; Venus; Mars; Jupiter, 1965–67, Moderna Museet, Stockholm, Schenkung der Künstlerin, © Susanne Gyger, Luzern, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Eva Aeppli, Die Planeten (zehnteiliger Zyklus) Sonne; Mond; Merkur; Venus; Mars; Jupiter, 1965–67, Moderna Museet, Stockholm, Schenkung der Künstlerin,
© Susanne Gyger, Luzern, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Die Ausstellung und die begleitende Publikation leisten gewissermaßen Pionierarbeit, denn sowohl das Gemeinschaftswerk als auch das Werk Eva Aepplis ist europaweit und auch weltweit nur wenig bekannt. Mit 76 Werken (37 von Eva Aeppli, 25 von Jean Tinguely, 9 Gemeinschaftswerken und 5 Kollaborationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern) präsentieren sie die bedeutendsten Schaffensphasen Tinguelys und Aepplis. Ausstellung und Publikation rücken zudem Aepplis Werke in den Fokus und verschaffen damit einer bisher lange nur wenig beachteten Künstlerin die angemessene Sichtbarkeit.

Eva Aeppli, Les Amoureux/Die Liebenden 1988-89, Moderna Museet, Stockholm, © Susanne Gyger, Luzern, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Eva Aeppli, Les Amoureux/Die Liebenden 1988-89, Moderna Museet, Stockholm
© Susanne Gyger, Luzern, Foto: Thomas Köster/KunstArztPraxis.de

Die Synergie zwischen Tinguelys und Aepplis Schaffen bildet den Grundstein für die Vermittlung der Ausstellung. Tinguely und Eva Aeppli werden 2025 zwar 100 Jahre alt, ihre Themen und Ansichten sind jedoch aktueller denn je. Ihre Werke finden neue Formen für das Spiel zwischen Mensch und Maschine, das jeden Tag erlebbar ist. So stehen in der Vermittlung die Interaktion und der Dialog der Werke mit den Besuchenden sowie die Freude am Entdecken neuer Dinge im Mittelpunkt. Die Themen Nachhaltigkeit, Wandel und Vergänglichkeit schaffen zahlreiche Bezüge zur eigenen Lebensrealität.

 

„Die Ausstellung Mechanik und Menschlichkeit stellt einen besonderen Höhepunkt in der Geschichte des Lehmbruck Museums und der Stadt Duisburg dar. Es ist die weltweit erste umfassende Ausstellung des Künstlerpaars Jean Tinguely und Eva Aeppli. Sie vereint das Werk eines international bekannten Bildhauers mit den Skulpturen einer Künstlerin, die lange Zeit nur einem kleinen Kreis bekannt war“, erklärt Sören Link, Oberbürgermeister der Stadt Duisburg. „In unserer Ausstellung, die wir zu den 100. Geburtstagen beider Persönlichkeiten ausrichten, feiern wir also nicht nur Jean Tinguely, der als Träger des Wilhelm-Lehmbruck-Preises tief in der kulturellen Geschichte unserer Stadt verankert ist, sondern leisten zugleich Pionierarbeit, um dem Werk von Eva Aeppli wohlverdiente Sichtbarkeit zu verschaffen.“

Jean Tinguely, Cenodoxus, 1981 Helvetia Kunstsammlung, © VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Jean Tinguely, Foto: Christoph Reichwein

Jean Tinguely, Cenodoxus, 1981 Helvetia Kunstsammlung
© VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Jean Tinguely, Foto: Christoph Reichwein


Auf einen Blick

Ausstellung
Bis 24. August 2025: Mechanik und Menschlichkeit. Eva Aeppli und Jean Tinguely.

Öffnungszeiten
Dienstag bis Freitag von 12.00 bis 17.00 Uhr, Samstag und Sonntag von 11.00 bis 17.00 Uhr

Katalog
Mechanik und Menschlichkeit. Eva Aeppli und Jean Tinguely.
Söke Dinkla (Hrsg.), mit Beiträgen von Dr. Söke Dinkla, Roland Wetzel, Anne Groh, Sarah Louisa Henn sowie Barbara Räderscheidt im Gespräch mit Daniel Spoerri, dt., Hardcover, 168 S. mit 122 Abb., 24,5 x 28,5 cm, Wienand Verlag, ISBN 9783868328233
Begleitprogramm

Veranstaltungen
Begleitend zur Ausstellung lädt das Lehmbruck Museum zu einer Reihe von Veranstaltungen ein. Aktuelle Informationen werden auf der Website des Lehmbruck Museums (www.lehmbruckmuseum.de) veröffentlicht.

Weltweite Veranstaltungen zu Jean Tinguelys 100. Geburtstag sind auf der Website www.tinguely100.com zu finden.

Kontakt
Lehmbruck Museum
Friedrich-Wilhelm-Straße 40
47051 Duisburg
Tel. +49-(0)203-283-3294
www.lehmbruckmuseum.de

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Profile

In seiner langen Geschichte kann das Lehmbruck Museum auf eine abwechslungsreiche Entwicklung zurückblicken. Es zählt heute zu den traditionsreichsten Häusern Deutschlands und gehört zu den bedeutendsten Skulpturensammlungen Europas. Den Grundstein für die Entwicklung Hauses legte die Gründung eines Kunstvereins 1905, und nur zwei Jahre später übernahm dieser auch den Aufbau einer Sammlung zeitgenössischer Kunst. Seit 1925 entwickelte Gründungsdirektor August Hoff auf Basis der Sammlung Lehmbruck das Kunstmuseum. Nach den dunklen Jahren der NS-Zeit, in dem das Haus rund 100 seiner Werke als „entartete Kunst“ verlor, begann das Haus wieder zu wachsen. 1964 wurde schließlich im Kant-Park das von Manfred Lehmbruck konzipierte Wilhelm Lehmbruck Museum eröffnet. Der Erweiterungsbau von 1987 verdoppelte schließlich nahezu die Ausstellungsfläche. 2008 konnte der Nachlass Wilhelm Lehmbrucks dauerhaft für Duisburg gesichert werden. Seither festigte das Haus seinen Status als Künstlermuseum, das seit 2013 von Söke Dinkla geleitet wird.

Bildnachweis:
Lehmbruck Museum, © Lehmbruck Museum Duisburg, Foto: Jürgen Diemer

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