Ausstellung

Das Wesentliche ist immer einfach

Das Lebenswerk des Designers Dieter Rams

Für knallige Schlagzeilen und saftige Homestories nach dem Muster: „Hach, wie wahnsinnig exzentrisch dieser Gestalter nur ist!“ eignet sich Dieter Rams denkbar wenig. Ganz im Gegenteil – Rams hat zeitlebens kein Aufhebens um seine Person gemacht. Dennoch oder vielleicht deswegen ist er einer der bedeutendsten deutschen Designer der Nachkriegszeit. Ja, man könnte sagen, zwischen zwei historischen Polen der Auffassung von Gestaltung – dem Talmiglanz der frühen Gründerjahre der Republik und der Exuberanz der postmodernen 80er – markiert Rams eine Zone ganz eigener Qualität. Die von ihm gestalteten Objekte wollten nicht mehr sein als das, was sie waren – und auch nicht weniger: gut gemachte industrielle Produkte.

Das Frankfurter Museum Angewandte Kunst richtet Dieter Rams nun eine umfassende Ausstellung aus. Die Schau ist nicht nur Rückblick auf eine Glanzzeit deutschen Industriedesigns. Denn zum einen wird eine ganze Anzahl der von Rams entworfenen Objekte nach wie vor gefertigt, auch das schon eine Besonderheit in einer vom raschen Modenwechsel bestimmten Branche. Vor allem aber ist heute, vor dem Hintergrund des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses, Rams mit seiner ganz spezifischen Haltung zu einem Vorbild für viele junge Gestalter geworden. Eine Ausstellung mit doppelter Blickrichtung also im Kurzschließen einer eigentlich schon „historischen“ Haltung mit zukunftsorientierten Ansätzen: Ein Blick zurück und voraus, ist sie im Untertitel zu Recht benannt.

Rückblick und Trendschau in einem

Wer ist der Designer, dessen Werk einen solchen Spagat ermöglicht? Dieter Rams wurde 1932 in Wiesbaden geboren und begann gleich nach dem Krieg an der örtlichen Werkkunstschule Architektur und Innenarchitektur zu studieren, unterbrach diese Laufbahn aber vorläufig, um noch eine Tischlerlehre nachzuschieben. Die Zweigleisigkeit entsprach dem Lehrkonzept, mit dem sich die Hochschule auf Vorstellungen des Bauhauses bezog, denen zufolge Handwerklichkeit und akademische Qualifikation zusammengehörten. Die Lust am wortwörtlich handgreiflichen Kontakt zum Material war dem jungen Rams allerdings schon früher über den Großvater, einen Schreinermeister, vermittelt worden. Die Tätigkeit in einem Frankfurter Architekturbüro stand am Beginn des Berufslebens und dann, nach zwei Jahren, der Wechsel, der die Welt des Industriedesigns verändern sollte: 1955 zur gleichfalls in Frankfurt (und im nahen Kronberg) angesiedelten Firma Max Braun. Der Elektrogeräte-Hersteller stand nach dem Tod des Gründers 1951 inmitten einer Umorientierung: Die beiden Söhne Erwin und Arthur Braun suchten für das noch kleine Unternehmens eine neue Formsprache. Gemeint war hier nicht nur das äußerliche Erscheinungsbild der Erzeugnisse, nein, es ging um ein völlig neues Verständnis von Produkt und Unternehmensauftritt: Eine ganzheitlich gedachte Unternehmenskultur, wie wir heute sagen würden. Der Leiter der „Abteilung für Form- und Werbegestaltung“ hatte in diesem Zusammenhang Kontakte geknüpft zur Ulmer Hochschule für Gestaltung, deren Dozent Hans Gugelot mehrere Designaufträge übernahm. Die Ulmer (unter Gründungsdirektor Max Bill) waren Erben der Ideen des legendären Bauhauses aus der Vorkriegszeit, Bauhausschüler Wilhelm Wagenfeld entwarf 1954 Phonogeräte für Braun. 1955 nun kam Dieter Rams dazu, 1961 wurde er Leiter der Gestaltungsabteilung. Ganze vier Jahrzehnte, bis 1995, war Rams für Braun tätig. Er wurde zum Gesicht – dass Rams wirklich markant aussah (und aussieht!), war da sicher kein Nachteil … – des zunehmend auch international erfolgreichen Unternehmens. Dass Industriedesign freilich kein Geschäft für einsame Genies sei, sondern ganz im Gegenteil seine besten Qualitäten nur intensiver Teamarbeit verdanke, hat der Gestalter (der Begriff „Designer“ kam erst viel später auf, gegen Ende der 1960er-Jahre) immer betont.

Schneewittchen und Co.

Das erwies sich schon 1956 bei dem Produkt, das die Namen Braun und Rams mit einem Schlag berühmt machte: der in der spröden Sprache der Techniker des Hauses als Phonosuper SK4 bezeichneten Radio-Plattenspieler-Kombination. Rams (zusammen mit Gugelot) umkleidete die Technik des Gerätes mit einer weiß lackierten quaderförmigen Blechhülle, deren offene Enden zwei dunkle Holzplatten abschlossen, die als über den unteren Rand ragende Kufen gleichzeitig die Standfüße bildeten. Als (für die staubempfindlichen Schallplatten) nötige Abdeckung war ursprünglich ein Blechdeckel vorgesehen gewesen, der allerdings zu Klappergeräuschen und Resonanzen führte. Die von Rams vorgeschlagene Alternative: das damals in der Alltagswelt noch neue Material Plexiglas. Dessen Transparenz war höchst funktional. Sie sorgte für zuverlässigen Staubschutz; überdies war zu sehen, ob überhaupt eine Schallplatte auf dem Teller lag und wie weit der Abspielprozess ggf. fortgeschritten war. Vor allem aber war die Durchsichtigkeit symbolisch aussagekräftig: Hier stand ein Objekt, das sich nicht mehr hinter nachgeäfften historischen Stilformen verstecken wollte. Eine Sensation auf einem Markt, der beherrscht wurde vom (spöttisch so genannten) Gelsenkirchener Barock, der mit geborgten Schnörkeln über schnöde Technik hinwegtäuschen wollte. Statt (falsch-)güldener Zierleisten in Rocaillenform fand sich an der Vorderfront des Braun-Gerätes lediglich eine Gruppe von ausgestanzten Schlitzen im Blech, die die horizontale Streckung elegant betonten und gleichzeitig der Kühlung dienten. Sämtliche Bedienelemente waren an der Oberseite angebracht, statt wie gewohnt vorn, und in logischen Gruppen zusammengefasst. Die Gerätetypografie basierte auf neuesten Konzepten der Ulmer Hochschule (Otl Aicher).

SK4 war ein Statement der Modernität und als solches in fortschrittlichen Kreisen begehrt: Der Überlieferung nach kaufte sich 1958 der Schriftsteller Günter Grass (Pfeifenraucher wie Rams und überhaupt jeder ernsthafte Intellektuelle damals), vom Honorar seiner ersten Lesung für den bayrischen Rundfunk ein SK4! Ein technisches Gerät, das sich selbstbewusst als solches präsentierte, das war also in seiner Nüchternheit etwas ganz Neues. Aber – unter welchem Namen wurde SK4 erst so richtig berühmt? Das märchenhafte (inoffizielle) Etikett Schneewittchensarg brachte durch die Hintertür die gefühlige Komponente wieder herein, die die auf Rationalität gepolten Braunianer gerade zur Vordertür hinausgeworfen hatten. Der Name blieb bis heute, und was macht es, sowohl die schöne Freundin der Zwerge als auch dieser Phonosuper waren ja beide ausgesprochen elegante Erscheinungen …

Die am Beispiel des SK4 etwas ausführlicher demonstrierten Prinzipien entwickelte Rams für Braun in den folgenden Jahrzehnten konsequent weiter. Phonogeräte, Projektoren, Uhren, Taschenrechner und Elektrorasierer, ein Kerngeschäftsbereich der Marke, sie alle vereinte eine Produktsprache, die hohe Gebrauchsfähigkeit mit visueller Langlebigkeit verband. Die Bedienung der Geräte war das, was man heute als „intuitiv“ bezeichnet: Bedienungsanleitungen, so sagte es Rams einmal selbst, sollten im Grunde überflüssig sein. Hier hatte auch der Einsatz von Farbigkeit seinen Ort: Nicht als beliebige oberflächliche Aufhübschung, sondern als gezielter Farbakzent auf einem weißen oder schwarzen Gehäuse: Hinweisfunktion für die Bedienung. Und die Schönheit? Sie war die Summe aller dieser Überlegungen! Das von Rams immer weiter perfektionierte, charakteristische „Braun-Design“ wurde, Produktbereiche übergreifend, seinerseits zum Markenartikel, der der Firma weltweite Anerkennung und Umsätze bescherte und, noch weiter gefasst, dazu beitrug, das Image von deutschen Industrieprodukten überhaupt zu definieren.

Nachhaltigkeit

Einen entscheidenden Schritt tat Rams mit der Entwicklung des Systemgedankens, also weg vom einzelnen Objekt, wie gut auch immer, hin zu möglichst frei kombinierbaren Gruppen. Das ist bestens zu sehen an den HiFi-Anlagen, die mit sich entwickelnden Bedürfnissen des Nutzers oder auch technischen Fortschritten auf der Geräteseite, Schritt für Schritt anpassbar waren: vom Einzelprodukt zum Modul. Dieser Ansatz findet sich nicht nur bei den Entwürfen für Braun, sondern beispielhaft auch bei den Möbeln für den dänischen (später britischen) Hersteller Vitsœ, mit dem Rams eine lange Geschichte verband. Die Sitzmöbel, Regale und Schränke waren in einer Vielzahl von Varianten kombinier- und beliebig erweiterbar – bis heute. Denn auch ein nagelneues Erweiterungsteil aus dem Regalsystem 606 des Jahrgangs 2021 passt problemlos zu einem etwa in den 1960ern gekauften Grundelement: Die Verbindungselemente der Regale sind unverändert (und so hochwertig gefertigt, dass sie jahrzehntelang halten).

Genau hier sind wir bei der eingangs erwähnten Vorbildfunktion, die Dieter Rams‘ Design für junge Gestalter heute hat. Dafür freilich musste der Zeitgeist erst einen Purzelbaum schlagen. Die logische Stringenz und reduzierte Formsprache, die Rams‘ Entwürfe in den 60er- und 70er-Jahren zur Avantgarde machte, erschien in den 1980er-Jahren plötzlich als überholt: Der Triumphzug der Postmoderne begann – die schrillen Entwürfe der italienischen Designergruppe Memphis sind nur ein Beispiel –, die Abkehr von striktem Funktionalismus wurde als Befreiung hin zu fröhlicher Individualität empfunden. Gerade die offensichtliche Unzweckmäßigkeit einer Zitronenpresse wurde nun zur (un-)sinnstiftenden Tugend. Aber post-millennial änderten sich die Parameter erneut: Überlegungen zum Umweltschutz stellten sich beim Produktdesign an die Seite bislang einzig gültiger funktionaler und formaler Erwägungen. Design sollte jetzt etwas zu tun haben mit gesellschaftlicher Verantwortung. Und da konnten beispielsweise die langen Produktionszyklen der Rams’schen Entwürfe unversehens zu Mustern eines an Nachhaltigkeit orientierten Ansatzes werden. Funktionalität, haptisch-sinnliche Qualität und ästhetische Langlebigkeit sollten wieder zusammenkommen: Rams konnte sich über kollegiale Anerkennung aus der jüngeren Generation freuen, als ihm Jonathan Ive eines seiner iPhones als Hommage übersandte (wie überhaupt das Gestaltungskonzept von Apple in vielem an das von Rams verantwortete Braun-Design erinnert).

Ein einziges Wohnhaus hat der gelernte Architekt Dieter Rams im Laufe seines langen kreativen Lebens gebaut: Es ist das Haus, in dem er heute noch mit seiner Frau Ingeborg, einer Fotografin, wohnt, in Kronberg am Taunus unweit seiner alten Wirkungsstätte aus Braun-Tagen. Von den unzähligen im Laufe seiner Karriere ihm verliehenen Auszeichnungen ist vielleicht die schönste diese: An der Wand des Arbeitszimmers hängt immer noch betriebsbereit eine Braun HiFi-Systemanlage, die einzelnen Komponenten so formal klar wie funktional logisch aufgereiht. Für Rams war das Alltägliche das Besondere, das es zu verbessern und möglichst auch zu vereinfachen galt: „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich!“, auf dieses knappe Motto brachte der großartige Gestalter selbst einmal seine Philosophie.


Auf einen Blick

Ausstellung: Dieter Rams. Ein Blick zurück und voraus

Ort: Museum Angewandte Kunst, Schaumainkai 17, 60594 Frankfurt am Main

Dauer: 16. Januar 2022

Internet: www.museumangewandtekunst.de

Öffnungszeiten:

Di 12.00–18.00 Uhr, Mit 12.00–20.00 Uhr, Do–So 10.00–18.00 Uhr

Es gelten weiterhin die Sicherheits- und Hygienemaßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus SARS-CoV-2. Die Ausstellungsfläche des Museum Angewandte Kunst ist groß genug, sodass eine Anmeldung direkt vor Ort an der Kasse möglich ist. Als weitere Option kann auf der Website ein 1,5-Stunden-Zeitslot gebucht und bereits online ein Erfassungsbogen zur Kontaktnachverfolgung ausgefüllt werden.

Publikation
Dieter Rams Werkverzeichnis, von Klaus Kemp mit einem Vorwort von Dieter Rams, dt., geb., 344 S., Phaidon, ISBN 9781838661816

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Profile

Als lebendiger Ort des Entdeckens richtet das Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main seinen Fokus auf die Wahrnehmung gesellschaftlicher Strömungen und Entwicklungen, mit einem Schwerpunkt auf Design, Mode und Performatives. Vor dem Hintergrund seiner bedeutenden Sammlungen – europäisches Kunsthandwerk vom 12. bis 21. Jahrhundert, Design, Buchkunst und Grafik sowie islamische und ostasiatische Kunst – will es Verborgenes sichtbar machen und Beziehungen schaffen zwischen den Geschehnissen und Geschichten rund um die Dinge. Die wechselnden Ausstellungen erzählen von kulturellen Werten und sich wandelnden Lebensverhältnissen, denen mit neuen Formen Ausdruck und Gestalt verliehen wird. Darüber hinaus verweisen sie stets auch auf die Frage, was angewandte Kunst heute ist und sein kann und zeigen das ihr eigene Spannungsfeld zwischen Funktion und ästhetischem Mehrwert auf. Die Architektur des Museum Angewandte Kunst stammt von Richard Meier. Er integrierte die seit dem 19. Jahrhundert existierende klassizistische Villa der Familie Metzler und schuf auf diese Weise ein Ensemble aus umliegenden Park, Villa und dem Neubau des Museums.

[Foto: Anja Jahn, 2014, © Museum Angewandte Kunst]

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