Buchtipp

Jedes Bild
ist eine Interpretation des Sehens

Was geschieht, wenn sich zwei Kunstkenner über ihr Lieblingsthema unterhalten? Es wird spannend! In 18 Gesprächen haben der viel beachtete Kunstkritiker Martin Gayford und der renommierte Künstler David Hockney die Kulturleistung des Bildes beleuchtet. Der Sieveking Verlag hat sie großzügig bebildert und unter dem Titel „Welt der Bilder“ als opulenten Bildband veröffentlicht.

„Wir sind von Bildern umgeben: auf Laptops und auf Handys, in Zeitschriften, Zeitungen und Büchern (…) ja, selbst an unseren Wänden. Mithilfe von Bildern, ebenso sehr wie mit Worten, denken wir, träumen wir und versuchen wir, unsere persönliche und räumliche Umgebung zu verstehen“, heißt es im Vorwort zum Buch. Bilder sind aus dem Leben der Menschen nicht wegzudenken. Sich ein Bild zu machen gehört zu den frühesten Kulturtechniken der Menschen. Von Anfang an versuchte die Menschheit, die Welt durch Bilder zu verstehen. Die ältesten überlieferten Bilder sind Höhlenmalereien, die vor 40.000 Jahren gezeichnet wurden. Ein Bild, so David Hockney, ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns Rechenschaft über das ablegen können, was wir sehen – und es ist eine Interpretation des Sehens.

Alle Bildproduzenten sind mit dem gemeinsamen Problem konfrontiert, wie sie dreidimensionale Menschen, Dinge und Orte auf einer planen Oberfläche abbilden können. Die Ergebnisse dieser Bemühungen werden als Gemälde, Fotografien oder Filme klassifiziert. Oder sie werden aufgrund ihres Entstehungsdatums beziehungsweise aus stilistischen Gründen in Schubladen wie Mittelalter, Renaissance und Barock gepackt. David Hockney allerdings vertritt die im Allgemeinen eher seltene Auffassung, wonach Bilder als eine eigenständige Kategorie zu betrachten sind, in allererster Linie eben als Bilder, ganz unabhängig davon, ob sie mit dem Pinsel, der Kamera oder einem digitalen Programm gemacht wurden, ob sie sich an der Wand einer Höhle oder auf einem Computerbildschirm befinden. Der Bogen, den die beiden Diskutanten unterhaltsam und lehrreich schlagen, ist entsprechend weit gefasst, denn Hockney und Gayford sind überzeugt: Damit wir verstehen, wie wir unsere Umwelt – und somit uns selbst – sehen, bedarf es einer Geschichte der Bilder. Die Kontinuitäten und Spielarten der bildlichen Darstellung sind folglich der rote Faden, der ihren Diskussionen zugrunde liegt und sich somit auch durch das Buch zieht.

Indem sie eine Fülle von Bildern nebeneinander stellen – ein Standbild aus einem Disney-Zeichenfilm neben einen Holzschnitt von Hiroshige, eine Szene aus einem Film von Eisenstein neben ein Gemälde von Velázquez usw. – überschreiten die Autoren die Grenzen zwischen dem, was wir Hoch- und dem, was wir Popkultur nennen. Unerwartete, zeit- und medienübergreifende Verbindungen und Gegenüberstellungen, die die Gesprächspartner als Argumentationslinien für ihre 18 Themen heranziehen – etwa „Bilder und die Realität“, „Spiegel und Spiegelungen“, „Schatten und Täuschung“ oder „Fotografie, Wahrheit und Malerei“ – führen zu immer neuen Einsichten über das, was ein Zeichen interessant macht, über Albertis Fenster, die Fotografie als Kind der Malerei et cetera, et cetera.

In fesselnden Dialogen analysieren die Gesprächspartner, was die Geschichte des Bildermachens in den letzten 40 Jahrtausenden für die Menschheit bedeutete und wie wir uns mit Bildern die Welt erschließen. Ihr Überblick über die Geschichte des Bildes ist voller Esprit und Anschauungsmaterial. Gleichzeitig erzählt er eine globale Geschichte, die ihren Ursprung in prähistorischen Höhlen hat und deren Entwicklung sich stetig fortsetzt. Dabei konzentrieren sich Hockney und Gayford auf zwei Traditionen: die westliche Tradition Ägyptens, Europas und der USA sowie auf den ganz anderen Ansatz in China und Japan. Das Ergebnis ist eine anregende Fachdiskussion, die nicht nur Künstlerinnen und Künstler interessieren dürfte.

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