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Alles geritzt!

Die Kunst der kalten Nadel

Das Zusammenspiel künstlerischer Virtuosität mit der Vielfalt des Ausdrucks macht den besonderen Charme der Radierung aus. Für die klassische Kaltnadelradierung werden Zink- oder Kupferplatten, aber auch moderne Kunststoffplatten genutzt.

Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe

„Die einzige wirklich echte, gleichmäßige Linie ist die radierte. Fein gezogen, bietet sie unnachahmliche Grazie, unübertrefflichen Schwung. Breit geätzt, erhält sie den Charakter einer monumentalen Größe, einer ernsten Wucht, an die nichts anderes heranreicht. Die radierte Linie ist die Linie par excellence, und die Radierung das Ideal der Schwarzweißkunst.“ Der Reiz der Radierung ließ Hans W. Singer in seinem „Handbuch für Kupferstichsammler“ (Leipzig 1922, S. 60 f.) ins Schwärmen geraten, und in ihrer jahrhundertelangen Geschichte hat die Radierkunst bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Ob Rembrandt oder Goya, Lorrain oder Tiepolo, Chagall oder Picasso – die Geschichte der Radierung ist immer auch eine Geschichte der großen Meister. Die radierten Landschaften, Studien und (Selbst-)Porträts Rembrandts, den schon seine Zeitgenossen als „Magier der Radierkunst“ rühmten, gelten bis heute als ein künstlerischer Höhepunkt dieser Technik.

Die Tiefdrucktechnik der Radierung, deren Entwicklung im Kupferstich wurzelt, trat um die Wende zum 16. Jahrhundert ihren künstlerischen Siegeszug an. Zwei Arten der Radierung (von lat. radere: kratzen, schaben, entfernen) lassen sich grundsätzlich unterscheiden: Die Kaltnadelradierung wird direkt mit der Radiernadel auf der Druckplatte ausgeführt, während bei der Ätzradierung in einen auf die Druckplatte aufgebrachten Ätzgrund gezeichnet und die Platte dann in einem Säurebad geätzt wird. Beide Verfahren verbindet die Tatsache, dass das Bildthema natürlich seitenverkehrt angelegt und erst durch den Druck seitenrichtig auf das Papier gebracht wird. Traditionell werden Radierplatten aus Zink oder Kupfer genutzt. Der Begriff der „kalten Nadel“ (frz. pointe sèche) versteht sich übrigens im Gegensatz zum wärmeerzeugenden chemischen Prozess des Ätzens. Im Folgenden steht die Kaltnadelradierung im Fokus, die auf speziellen Kunststoff-Radierplatten ausgeführt wird.

Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe

Radierplatten aus Spezialkunststoff sind glasklare Platten mit einer Stärke von 0,5 Millimetern, die sich nicht nur leicht mit Schere oder Cutter auf das gewünschte Format zuschneiden lassen, sondern auch preisgünstig sind, sodass man sie unbefangen bezeichnen kann. Bei Zink oder Kupfer ist eine eventuelle Korrektur aufwendig und nicht immer perfekt durchführbar, bei Kunststoff kann man von vorn mit einer neuen Platte beginnen – dies macht die Platten bestens für Studienzwecke geeignet.

Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe

Radierungen werden bevorzugt auf Bütten- oder Spezialpapieren mit gerissenen Rändern gedruckt. Da das trockene Druckpapier vergleichsweise hart sein kann, sollte es zum Druck gut durchfeuchtet sein, aber keineswegs tropfnass. Daher wird das Papier am Tag vor dem Druck gleichmäßig gewässert, etwa durch kurzes, aber gründliches Eintauchen in kaltes Wasser (das überschüssige Wasser sollte danach leicht abgestreift werden). Die feuchten Bögen werden sorgfältig auf eine geeignete, glatte Unterlage gestapelt. Eine schwere, obenauf gelegte (Glas-)Platte verhindert, dass das Papier sich wellt. Um der Austrocknung an den Rändern vorzubeugen, schützt Einpacken in Alufolie oder eine Plastiktüte vor Verdunstung.

Durch ihre Transparenz eignen sich die Kunststoffplatten insbesondere für die Bezeichnung nach einer Vorlage, die untergelegt und auf einer geeigneten Unterlage fixiert wird. Für eine zielgenaue Linienführung muss die Radiernadel gegen einen gewissen Widerstand arbeiten, daher sollte sie mit zeichnerischer Präzision und Kraft geführt werden. Ist die Linienführung spontaner, kann ebendieser Materialwiderstand zu reizvollen und interessanten Ergebnissen führen.

Die in die Platte geritzten Linien verdrängen Material, das sich an den Linienrändern aufwirft. Im Druck bilden diese erhabenen Grate weichere Linien mit einer sanften Verschattung. Vor einem dunklen Hintergrund sind die radierten, weiß erscheinenden Linien in der Kunststoffplatte gut erkennbar.

Die Druckfarbe wird zunächst mit einer Gummiwalze auf einem glatten Stein, einer Glas- oder Kunststoffplatte ausgewalzt, damit die Farbe homogen auf die Walze übertragen und schließlich auf die Platte aufgebracht werden kann. Im Anschluss wird die Farbe zunächst mit Wischgaze und evtl. nochmals mit weichgeknülltem Zeitungspapier wieder abgerieben, um einem zu starken Plattenton vorzubeugen.

Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe

Ein erster Andruck hilft schließlich bei der Prüfung der Zeichnung: Wenn nötig, wird die Platte danach weiterentwickelt bzw. korrigiert. Mitunter benötigt man mehrere Andrucke und Korrekturen, bevor Serienreife erreicht wird.

Eine Druckplatte kann mit verschiedenen Farben eingefärbt werden, allerdings ist dieses Verfahren für den einheitlichen Druck einer Folge von Blättern kaum zu steuern, da jedes Blatt naturgemäß anders ausfällt. Daher bietet es sich an, jeder Farbe eine eigene Druckplatte in identischer Größe zu widmen.

Für diese Hausansicht mit roter Bistro-Markise sind es zwei Platten – eine für den klassisch-schwarzen, eine für den roten Druck. Beim Bezeichnen der ersten Platte wird der Bereich, der später farbig erscheinen soll, ausgespart und eventuell nur konturiert. Auf einer zweiten Platte wird allein dieser Bereich samt der Binnenzeichnung ausgeführt. Nach dem Einwalzen der Platte sollte die Farbe gründlich abgewischt werden, um einen Plattenton zu vermeiden.

Die Arbeit mit Druckplatten aus Spezialkunststoff sollte einer Besonderheit Rechnung tragen: Das vergleichsweise weiche Material lässt sich mit leichterer Hand bearbeiten, allerdings ist die Zahl der guten Abzüge von einer Platte auf etwa 20 Exemplare begrenzt.

Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe
Idee, Realisation und Fotografie: Ina Riepe

Charme und Faszination der Radierung sind bis heute ungebrochen. Wer sich mit der Kaltnadeltechnik befasst, mag sich auch bald weiteren Radiertechniken widmen: Die Ätzradierung erlaubt eine noch spontanere Linienführung, eine stufenweise Ätzung mit teils abgedeckten Partien lässt Schattierungen, Lichter und Tiefen entstehen. Die Aquatinta-Technik gilt mit ihren an lavierte Tuschezeichnungen erinnernden Tonwerten als die malerischste der Radiertechniken. Und last but not least bietet die Weichgrundätzung (frz. vernis mou) besonderen Spielraum für Experimente: Unterschiedlichste Materialien – z.B. Stoffe oder strukturierte Papiere – können in den weichen Ätzgrund gepresst und wieder abgelöst werden.

Das Zusammenspiel künstlerischer Virtuosität mit der Vielfalt des Ausdrucks macht den besonderen Charme der Radierung aus: Ob einzeln oder in Kombination ihrer Techniken bietet sie reizvolle und individuelle künstlerische Möglichkeiten.

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