Hintergrund

Nulla dies sine linea – kein Tag, ohne eine Linie zu ziehen

Der Satz „Nulla dies sine linea“, den angeblich Plinius dem berühmten griechischen Maler Apelles in den Mund gelegt hat, der aber in Wirklichkeit so formuliert erst aus dem frühen 16. Jahrhundert stammt, gehört zusammen mit der „Line of beauty“ von William Hogarth (1753) zu den immer wieder beschworenen Charakteristika der Zeichenkunst.

Hört man Eberhard Freudenreich zu, wenn er über seine Papierarbeiten spricht, immer wieder auf die Kante und die Linie verweist, auch da, wo er gar nicht zeichnet, sondern schneidet oder faltet, fallen einem diese beiden Begriffe ein. Und hat man gar das Privileg, ihn in seinem Atelier besuchen zu dürfen, dann wird einem klar, dass da täglich sehr viel mehr Linien gezogen werden, nicht nur eine. Denn überall stapeln sich begonnene Arbeiten, die ihrer Vollendung entgegenschreiten, und man ahnt, dass in irgendwelchen Winkeln bereits andere Arbeiten warten, die begonnen werden wollen.
Schnitte, Schiebekästen, Faltungen, Objekte, Zeichnungen, bei jeder Drehung des Kopfes fällt der Blick auf eine andere Arbeit. Und diese Vielfalt soll aus den immer gleichen Formen entstanden sein, die vor vielen Jahren entwickelt wurden? Das ist kaum zu glauben.

Im Katalog von 2006 über Freudenreich liest man den von dem Schriftsteller Eugen Gottlob Winkler formulierten Satz. „Die Linie war da und trennte“. Doch muss die Linie immer trennen? Kann sie nicht auch verbinden? Oder gar vorzeichnen beziehungsweise nachzeichnen, so wie die Lebenslinie, die je nach Vorstellung den Lebensweg einer jeden einzelnen Person vorzeichnet (wenn man an die Prädestinationslehre glaubt) oder nachzeichnet?

Die Lebenslinie von Eberhard Freudenreich nimmt 1963 ihren Anfang in Bad Urach und Upfingen. Auf das Abitur folgte der damals noch sehr lange dauernde Zivildienst, bis Freudenreich dann endlich 1986 das Studium der Freien Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart bei Rudolf Schoofs beginnen konnte, einem passionierten Zeichner, dessen Spontaneität sich in informellen Arbeiten niederschlug, die erst später von einer stärkeren Struktur abgelöst wurden. Die Prägung durch Schoofs machte sich in Zeichnungen bemerkbar, die Eberhard Freudenreich zu nah am Lehrer orientiert waren, weshalb er das Gefühl hatte, das Medium wechseln zu müssen. Er verlegte sich auf die Radierung, mit der er leichter einen eigenen Stil entwickeln, sich vom Einfluss des Lehrers lösen konnte. Doch nach Ende des Studiums stand ihm keine Radierpresse mehr zur Verfügung. Für den Hochdruck wie Holz- oder Linolschnitt ist eine Presse nicht zwingend erforderlich. Doch ganz anders als bei der Radierung, die von der Technik her der Zeichnung durchaus verwandt ist, spielt im Hochdruck das Messer eine entscheidende Rolle – und damit auch der Schnitt. Die gezeichnete Linie wird durch die geschnittene ersetzt. Es entsteht ein ganz anderer Arbeitsprozess.

Eberhard Freudenreich
Eberhard Freudenreich

Bereits bei den Radierungen hatte Freudenreich mit Schablonen gearbeitet. Die Schablonen selbst änderten sich nicht, aber ihre Größe, die Kombination, das Verhältnis zueinander. Mit vier verschiedenen Schablonen lassen sich unendlich viele Variationen finden, vor allem, wenn diese nicht rein geometrisch sind, sondern eher biomorph. Hier trifft also die serielle Arbeit, die häufig im Konstruktiv-Geometrischen verankert ist, auf eher organische Formen. Ein neuer Dialog entsteht. Dieser erweitert sich noch durch die unterschiedlichen Farben, mit denen ein Holzstock eingefärbt wird. Trotz sparsamer Verwendung von Farben – zu Weiß und Schwarz kommen Rot und Gelb, nur ganz selten auch einmal ein Blau oder Grün – entstehen ganz verschiedene Bilder.
Mitte der 1990er-Jahre trat dann eine neue Entwicklung ein, die dem Zufall geschuldet war, der in der Arbeit von Eberhard Freudenreich immer wieder eine zentrale Rolle spielt. Im Atelier lagen einige Schablonen übereinander und produzierten durch das Spiel von Licht und Schatten eine vorher nicht wahrgenommene Dreidimensionalität. Von dort war es nur ein kleiner Schritt, in Teile geschnittene Schablonen übereinander anzuordnen und zu fixieren. So entstanden 1996 die ersten Papierschnitte.

Es ist einfach eine Linie, und zwar eine, die trennt

Von außen betrachtet stellt sich allerdings die Frage, ob nicht auch der Schnitt ins Holz oder Linoleum, die mit dem Messer (nicht mit der Radiernadel, die mehr dem Bleistift ähnelt) an der Kante einer Schablone entlang geschnittene Linie, zu den Papierschnitten und vor allem zu den Schnittzeichnungen führte, die sich aus den Papierschnitten entwickelten. Diese Schnittzeichnungen führen uns auch wieder zur Linie, und zwar zu einer, die sich weder durch die Dicke des Bleistifts, noch durch dessen Härtegrad oder den auf ihn ausgeübten Druck manipulieren lässt. Es ist einfach eine Linie und zwar eine, die trennt. Denn mit der ins Papier geschnittenen Linie entsteht ein Raum, auch wenn er nur minimal erscheint. Und dieser Raum trennt die beiden Teile des geschnittenen Papiers.

Schnittzeichnung, 1999, Papier, 21 x 30 cm
Schnittzeichnung, 1999, Papier, 21 x 30 cm © Eberhard Freudenreich
Schnittcollage, 2001, Papier, 52 x 28 cm
Schnittcollage, 2001, Papier, 52 x 28 cm © Eberhard Freudenreich
Schnittkarton, 2002, Karton, Glas, Holz, 70 x 100 cm
Schnittkarton, 2002, Karton, Glas, Holz, 70 x 100 cm © Eberhard Freudenreich
Raumschichtung, 2005, Folie, Glas, Holz, 64 x 42 x 10 cm
Schnittkarton, 2002, Karton, Glas, Holz, 70 x 100 cm © Eberhard Freudenreich
"alata 5", 2009, Holzschnitt, 150 x 210 cm © Eberhard Freudenreich
"alata 9", 2009, Holzschnitt, 150 x 210 cm © Eberhard Freudenreich
Blatt 10 aus der Serie
Blatt 10 aus der Serie "12 Betrachtungen zu einem Ameisenhaufen", 2014, Linolschnitt, 65 x 91 cm © Eberhard Freudenreich
Verschiebbare Raumschichtung, 2015, Karton, Glas, Holz, 65 x 124,5 x 20 cm
Verschiebbare Raumschichtung, 2015, Karton, Glas, Holz, 65 x 124,5 x 20 cm © Eberhard Freudenreich
Vogelschwarm, Parkanlage Hinterzarten, 2014, 60 x 210 x 65 cm
Vogelschwarm, Parkanlage Hinterzarten, Forex, 2014, 60 x 210 x 65 cm © Eberhard Freudenreich
Faltung 201501W, 2016, Papier, 59 x 28 x 28 cm
Faltung 201501W, 2016, Papier, 59 x 28 x 28 cm © Eberhard Freudenreich
Faltung 201501G, 2016, Papier, 34 x 40 x 27 cm
Faltung 201501G, 2016, Papier, 34 x 40 x 27 cm © Eberhard Freudenreich

Auf die 1997 entwickelten Schnittzeichnungen folgten wenig später (im Jahr 2000) die Werkgruppen der Schnittcollagen und Schnittschichtungen. Bei ihnen wird nun die geschnittene Linie zur Kante. Und diese Kante findet sich auch in den weiteren Werkgruppen, denen der Schnittbücher, Kartonschnitte und Schnittobjekte. Parallel dazu entstanden aber auch weiterhin die farbigen Linolschnitte. Fast unnötig zu sagen, dass sie sich alle immer wieder aus denselben einmal entwickelten vier Schablonen speisten. Sie stellen bis heute eines der wichtigsten Hilfsmittel im Werk des Künstlers dar.
Bei diesen Schnittobjekten ist Eberhard Freudenreich endgültig in der Dreidimensionalität angekommen, die sich seit den ersten Schnitten ins Papier angekündigt hatte. Bereits 2002 wurde ein solches Schnittobjekt, das Freudenreich auch als dreidimensionale Schnittform bezeichnet, in ein anderes Medium überführt: Die über zwei Meter hohe Plastik aus Stahlplatten könnte man als bildhauerische Arbeit bezeichnen, Freudenreich sieht sich aber nach wie vor als Grafiker, auch heute noch, nachdem er Objekte schafft, die durchaus skulpturalen Charakter haben.
Doch so weit sind wir noch nicht. Die Beteiligung an Wettbewerben für einige Kunst-am-Bau-Projekte ließ aber den Ideen der Dreidimensionalität weiteren Raum und führte zu Papierfaltungen wie sie in der japanischen Kunst des Origami wurzeln.

Sulle ali del vento (Auf den Flügeln des Windes), eine Arbeit für den mit einem Glasdach geschlossenen Innenhof eines Stuttgarter Bankgebäudes, war als eine Art Mobile geplant, bei dem aus Papier gefaltete Vögel in den oberen Stockwerken in der Luft schweben und den Eindruck erwecken sollten, sie würden aufsteigen, um sich für den Weiterflug zu sammeln. Die Vergänglichkeit des Papiers führte dann zu Versuchen mit einem formbaren leichten Kunststoff. Das 2003 entwickelte Konzept wurde zwar mit dem ersten Preis bedacht, dann aber nicht realisiert. Doch die ersten Faltungen hatten stattgefunden, es kamen weitere hinzu, immer neue Mobiles und andere Objekte entstanden.

sulle ali del vento/ 2005 / Entwurf Kunst am Bau
Sulle ali del vento, 2005, Entwurf Kunst am Bau
© Eberhard Freudenreich

Welche Formen die Körper erhalten, entwickelt sich während der Arbeit

Ein rechteckiges Modul mit den Maßen 10 x 5 cm wurde dann zum Ausgangspunkt völlig neuer Arbeiten. Aus mehreren Modulen lassen sich Vier-, Fünf- oder andere Vielecke bilden, die, zusammengesetzt, Körper bilden. Welche Formen diese Körper erhalten, entwickelt sich während der Arbeit, zuerst mit goldenem Tonpapier, inzwischen sind auch erste Objekte aus weißem Papier entstanden. In den fertigen Objekten lassen sich Figuren erkennen, allerdings ändern sich diese je nach Position und auch hier, wie bei einigen der früheren Arbeiten, darf der Betrachter eingreifen und damit Veränderungen herbeiführen.
Parallel zu den goldenen Objekten, bei denen die Kante wieder eine entscheidende Rolle spielt, fand Freudenreich zum Bleistift zurück. Und wieder dominiert die Kante. Auf großformatigen Blättern fährt er mit dem Bleistift an der Kante einer Schablone entlang, verschiebt sie und wiederholt den Vorgang so lange, bis eine größere Fläche entstanden ist. Eine andere Schablone in ein Verhältnis zu ersten gesetzt, eine weitere Schraffur, mehrere, die sich überschneiden, führen zu Gebilden, die dreidimensional erscheinen und je nachdem, wie man sie betrachtet, zu Architektur werden oder aber zu wellenförmigen Gebilden. Diese Kantenzeichnungen stellen nun wieder eine neue Werkgruppe dar, die bereits durch den Buntstift erweitert wurde, bevor die Aquarellfarbe – in diesem Fall ein Rot – eine weitere Komponente ist, die wieder neue Aspekte der Kantenzeichnung beleuchtet.

Kantenzeichnung 201304, 2013, Bleistift, 103,5 x 153 cm
Kantenzeichnung 201304, 2013, Bleistift, 103,5 x 153 cm © Eberhard Freudenreich
Kantenzeichnung 201306, 2013, Bleistift, 103,5 x 153 cm
Kantenzeichnung 201306, 2013, Bleistift, 103,5 x 153 cm © Eberhard Freudenreich
Kantenzeichnung 201301, 2013, Buntstift, 103 x 157 cm
Kantenzeichnung 201301, 2013, Buntstift, 103 x 157 cm © Eberhard Freudenreich
Kantenzeichnung 201503, 2015, Buntstift, 60 x 89,5 cm
Kantenzeichnung 201503, 2015, Buntstift, 60 x 89,5 cm © Eberhard Freudenreich
Kantenzeichnung, 2016, Bleistift, 90 x 61 cm
Kantenzeichnung, 2016, Bleistift, 90 x 61 cm © Eberhard Freudenreich
Kantenzeichnung, 2017, Buntstift, 30,5 x 44,5 cm
Kantenzeichnung, 2017, Buntstift, 30,5 x 44,5 cm © Eberhard Freudenreich

So unterschiedlich die Werke von Eberhard Freudenreich auch erscheinen mögen, sie beschäftigen sich alle mit der Linie, beziehungsweise der Kante. Ausgangspunkt ist immer das Papier (auch wenn einige Arbeiten dann später in anderen Materialien wie Kunststoff ausgeführt werden) und die Entstehung ist mit einem enormen Zeitaufwand verbunden, wobei die Tätigkeit des Schneidens, Faltens oder Schraffierens oft meditative Züge bekommt. Vor allem die Kantenzeichnungen mit ihren Hunderten oder Tausenden von dicht an dicht gesetzten Linien können ohne Konzentration und Disziplin gar nicht entstehen. Vor dem geistigen Auge ersteht ein penibel aufgeräumtes Atelier, ein Tisch, auf dem sich Papier, Schablonen und Bleistifte befinden, sonst nichts.
Doch so arbeitet Eberhard Freudenreich nicht. Bei ihm herrscht ein kreatives Chaos, aus dem allein wahrscheinlich die ungeheure Vielfalt entstehen kann, die sein Werk bis heute ausmacht und die zu immer wieder neuen Entwicklungen führt. Die Betrachter wird er dabei nicht aus dem Blick verlieren, im Gegenteil, für ihn gehört der Betrachter zum aktiven Bestandteil der Arbeit. Damit geht er noch über Marcel Duchamp hinaus, der 1957 in seinem Essay Der kreative Akt formulierte:
„Alles in allem wird der kreative Akt nicht vom Künstler allein vollzogen; der Zuschauer bringt das Werk in Kontakt mit der äußerlichen Welt, indem er dessen innere Qualifikation entziffert und interpretiert und damit seinen Beitrag zum kreativen Akt hinzufügt. Das wird noch deutlicher, wenn die Nachwelt ihr endgültiges Verdikt ausspricht und manchmal vergessene Künstler rehabilitiert.“

Nulla dies sine linea – Die Linie war da und trennte – The line of beauty oder vielleicht doch einfach nur die innere Notwendigkeit, der Linie den Raum zu geben, den sie beansprucht – auch und gerade im Atelier von Eberhard Freudenreich.

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Profile

Eberhard Freudenreich, geboren 1963 in Bad Urach, studierte von 1986 bis 1993 an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart bei den Professoren Dieter Groß, Rudolf Schoofs und Herbert Egel. Seit 1993 ist Freudenreich freischaffend tätig; er lebt und arbeitet in Stuttgart.

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