Ausstellung

Körper und Gesellschaft

Miriam Cahn im Haus der Kunst

Sie thematisiert den weiblichen Körper als Träger sozialer Bedeutung ebenso wie seine Einbindung in ein Netzwerk aus Machtstrukturen: Das Œuvre von Miriam Cahn (*1949 in Basel) leistet einen Beitrag zur Diskussion um Körper- und Menschenbilder mittels einer radikal erweiterten Malerei. Mit über 200 Arbeiten aus dem mehr als fünf Jahrzehnte umspannenden Schaffen würdigt das Haus der Kunst in München derzeit ihr Gesamtwerk: Die Ausstellung „Miriam Cahn. Ich als Mensch“ ist bis zum 27. Oktober 2019 zu sehen

In ihren Bildwelten fordert Miriam Cahn die Aufhebung von gesellschaftlichen Normierungen und tritt der tradierten Inszenierung des Weiblichen sowie geschlechterspezifischen Rollenverhältnissen entgegen. Körperliche Erfahrungen, die sich eigentlich der visuellen Darstellung entziehen, versucht sie dennoch ins Bild zu setzen. Schon seit den frühen, vom Feminismus geprägten Jahren bis hin zum Spätwerk steht der Körper im Mittelpunkt ihrer Malerei: Cahn gibt ihn ausschließlich in seiner Nacktheit wieder und situiert ihn so in einer Sphäre der Ort- und Zeitlosigkeit. In seinen Linien klar umrissen, scheint er dennoch mit der Umgebung zu zerfließen. Die Schnittstellen von Innen- und Außenwelt und die wesentlichen Bedingungen des Menschseins beschäftigen das Denken der Künstlerin nachhaltig: „Wir wissen nicht wirklich, was Haut ist oder wo die Grenze zwischen dem Äußeren und Inneren verläuft“, so Miriam Cahn. Sie zeigt den Menschen in seiner Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit – und dies unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit. Die Ausstellung im Haus der Kunst vereint Schlüsselwerke aus allen Werkphasen, von den frühen Super-8-Filmen und den Skulpturen über die überlebensgroßen Kreidezeichnungen und Aquarelle bis hin zu den Ölbildern des Hauptwerks.

Miriam Cahn studierte an der Kunstgewerbeschule in Basel (1968–1973), wo sie in der Grafikklasse die Techniken und Strategien öffentlicher Meinungsbildung kennenlernte. Gleichzeitig erlebte sie in ihrem Umfeld die Etablierung neuer künstlerischer Ausdrucksformen wie Performance und Videokunst. Neben Friederike Pezold, Ulrike Rosenbach, Jochen Gerz oder Pipilotti Rist war auch Miriam Cahn Teil jener Avantgarde, die das Verhältnis von eigenem Körper und Gesellschaft neu bestimmen wollte. Performative wie intuitive Abläufe gewannen zusehends Einfluss auf Cahns Bildgestaltung – eine bewusste Abkehr vom Ideal der handwerklichen Perfektion und vom Geniekult der Malerei.

1982 erhielt Miriam Cahn die Einladung zur Teilnahme an der documenta 7, wo sie die Rauminstallation „Wachraum II“ zeigen sollte. Der Leiter Rudi Fuchs lud jedoch entgegen den Absprachen einen weiteren Teilnehmer in den Cahn zugewiesenen Ausstellungsraum ein, was die Präsentation, so die Künstlerin, „ihrer weiblichen Zeichen beraubt hätte“ – sie zog daher noch kurz vor der Eröffnung ihre Teilnahme zurück. Kurz darauf markierten die von Jean-Christophe Ammann kuratierte Einzelausstellung in der Kunsthalle Basel (1983) und die Einladung für den Schweizer Pavillon auf der 41. Biennale von Venedig (1984) erste Höhepunkte in ihrer Karriere.

Die Hell-Dunkel-Kompositionen des Frühwerks fanden ihren Abschluss in Werkreihen, die auf der Verwendung von zerriebenem dunklem Kreidestaub basieren, darunter die Serie „Lesen in Staub“ (1986–1988). Diese Bilder lassen sich als Versuch werten, im Einklang mit einer weiblichen Energie zu arbeiten, die durch den Rhythmus des Monatszyklus bestimmt ist. Mit Darstellungen von Kindern und Tieren hielten zugleich neue Motive Einzug in ihr Bildvokabular: Mit ihnen führte Miriam Cahn Themen wie Fürsorge und Schutz als Aspekte weiblicher Existenz ein.

Mitte der 1990er-Jahre wandte sich Miriam Cahn der Ölmalerei zu. Es entstanden Gemälde, die durch den virtuosen Einsatz von leuchtenden, vibrierenden Farben betören und gleichzeitig durch die Radikalität der Inhalte in hohem Maße verstören: die nukleare Bedrohung, der Golfkrieg und die Jugoslawienkriege, der Anschlag auf das World Trade Center und in jüngster Zeit die Flüchtlingsproblematik. Als Gründe für die Auseinandersetzung mit Krieg, Flucht und Vertreibung hat Cahn unter anderem ihre jüdischen Wurzeln und die Biografie ihrer aus dem Deutschland der Nazizeit in die Schweiz emigrierten Eltern angeführt.

Miriam Cahn richtet ihren Blick auf Momente, in denen Menschen allein auf sich gestellt sind, allein im Angesicht ihres Schicksals. Ihre Bilder erzählen davon, dass Menschen sich selbst ermächtigen, über das Leben anderer zu entscheiden: Sie bezieht sich dabei auf Giorgio Agambens Begriff des „nackten“ – eines quäl- und tötbaren, weil entrechteten – Lebens und verleiht dem unermesslichen Schmerz anderer Ausdruck. Cahns Gemälde vermitteln Empathie mit dem Leben anderer als wesentlichem Aspekt menschlichen Seins.

„In Zeiten von erneut aufflammendem Nationalismus, Populismus, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus und Verachtung des Pluralismus hat Cahns künstlerisches Werk enorm an Brisanz gewonnen“, so die Kuratorin Jana Baumann. „Ihre zentrale Bedeutung für ein radikal erweitertes Verständnis der Rolle der Frau in der Kunstgeschichtsschreibung ist unbestreitbar geworden.“

Miriam Cahn stellt tradierte, gesellschaftlich bedingte, kollektive Vorstellungen infrage und fordert damit die Normierungsgesellschaft heraus. Dabei reicht ihr künstlerisches thematisches Spektrum von der anfänglichen Entwicklung neuer Körperbilder bis hin zur Offenlegung der gegenwärtigen Verstrickung des Menschen in ein Netz von ökonomischen und ideologischen Zusammenhängen.

Auf einen Blick:

Ausstellung
Miriam Cahn: Ich als Mensch

Dauer
Bis 27. Oktober 2019

Kontakt
Haus der Kunst
Prinzregentenstraße 1, 80538 München
hausderkunst.de

Öffnungszeiten
Montag bis Sonntag: 10 Uhr bis 20 Uhr
Donnerstag: 10 Uhr bis 22 Uhr

Katalog
Miriam Cahn. Ich als Mensch
Hrsg. Stiftung Haus der Kunst München, gemeinnützige Betriebsgesellschaft mbH, mit Unterstützung von Pro Helvetia, Schweizer Kulturstiftung. Beiträge von Jana Baumann, Tess Edmonson, Natalia Sielewicz und Adam Szymczyk, Interview mit Miriam Cahn von Patricia Falcuières, Élisabeth Lebovici & Nataša Petrešin-Bachelez, Broschur, 256 S., 180 Abb. in Farbe, 22 x 28 cm, Hirmer, ISBN 9783777433592

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