Ausstellung

Der mysteriöse Meister

Ausstellungen in Brügge und Berlin feiern Hugo van der Goes

Obwohl die Reichen und Mächtigen ihm im Atelier die Aufwartung machten, obwohl er in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der meistgerühmte flämische Maler war, ist Hugo van der Goes der große Unbekannte der altniederländischen Kunst. Weder ist sein Geburtsjahr dokumentiert (um 1440 ist der plausibelste Näherungswert) noch der Geburtsort (wahrscheinlich Gent). Über sein Leben wissen wir wenig. Bei welchem Künstler er in die Lehre gegangen ist, entzieht sich unserer Kenntnis. Auch ein gesichertes Bildnis oder Selbstporträt ist nicht überliefert. Und da keines seiner Werke – vornehmlich Altartafeln und Andachtsbilder – signiert oder datiert ist, beruht die Zusammenstellung des Œuvres hauptsächlich auf stilgeschichtlichen Zuschreibungen. Und mitunter auf kunsthistorischer Spekulation.

Einer Ausstellung über Hugo van der Goes stellen sich also einige Hürden in den Weg. Dennoch nehmen nun gleich zwei Museen die Herausforderung an, den mysteriösen Meister zu würdigen und seine Kunst zu dechiffrieren. Derzeit präsentiert das Musea Brugge im gotischen Sint-Janshospitaal die Ausstellung „Den Tod vor Augen. Hugo van der Goes: Alter Meister, neue Blicke“. Das Zentrum der Schau im belgischen Brügge bildet der Marientod – das um 1480 entstandene Gemälde aus eigenem Besitz wurde in den vergangenen Jahren restauriert und erstrahlt nun wieder in altem Glanz. Der ungemeine farbliche Nuancenreichtum, der sich besonders in den Gewändern der Protagonisten zeigt und erst jetzt recht zur Geltung kommt, könnte sich von herkömmlicher schwarzer Trauerkleidung nicht stärker unterscheiden.

Im nächsten Frühjahr kommen Bewunderer von Hugos subtil-realistischer Malerei in der Gemäldegalerie Berlin auf ihre Kosten: Die Sonderausstellung „Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz und Seligkeit“ kann mit zwei Highlights aufwarten, die ebenfalls eine Verjüngungskur durch die Restauratoren erfahren haben: Gemeint sind der sogenannte Monforte-Altar (um 1470) und die Geburt Christi (um 1480). Rund um diese Spitzenstücke der Gemäldegalerie gruppieren sich zahlreiche Leihgaben, teils Werke des Künstlers selbst, teils solche aus seinem Umkreis oder seiner Nachfolge.

Fassen wir zusammen, was über Hugo van der Goes bekannt ist: Aktenkundig wird er 1468 anlässlich der Hochzeit von Karl dem Kühnen, Herzog von Burgund sowie der Burgundischen Niederlande, und Margareta von York. Zusammen mit anderen Malern erhält Hugo den Auftrag, nach Brügge zu kommen, um für die künstlerische Ausschmückung der Hochzeitsfeier zu sorgen. Weitere Dekorationsaufgaben übertragen ihm in den folgenden Jahren die Stadt Gent und der burgundische Hof. 1474/75 amtiert er als Dekan der Malergilde in Gent.

1476 trifft Hugo eine radikale Entscheidung: Er vertauscht das weltliche Dasein mit dem Leben hinter Klostermauern, geht als Augustinerbruder ins Roode Clooster, das sich in Oudergem bei Brüssel befindet. Weshalb? Gab eine seelische Erkrankung den Ausschlag, um auf dem Gipfel der Karriere Zuflucht im Kloster zu suchen? Diese Vermutung legt eine Chronik nahe, die sein Mitbruder Gaspar Ofhuys verfasst hat – allerdings erst um 1510, also rund drei Jahrzehnte nach dem Tod des Künstlers. Diese zeitliche Kluft relativiert den historischen Wert des Textes ebenso wie der moralisierende Unterton des Autors – in dem weiterhin erfolgreichen Künstler, der seine Arbeit im Kloster fortsetzt und dort sogar prominente Gäste wie Erzherzog Maximilian empfängt, sieht Ofhuys offenbar einen dekadenten Abweichler, der gegen das von den Mönchen gepredigte asketische Ideal der „Devotio moderna“ verstößt. Wie auch immer: Der Chronist berichtet von schweren psychischen Störungen des labilen Künstlers. Um 1480, als er gemeinsam mit anderen Brüdern des Roode Cloosters von einem Aufenthalt in Köln zurückkehrte, sei er „von einer sonderbaren Krankheit der Phantasie“ befallen worden. Den mehrfach versuchten Selbstmord des von Wahnideen Heimgesuchten mussten die Mönche verhindern, so Ofhuys. Zudem teilt er mit, dass der von Depressionen Geplagte zu Hause im Kloster zwar wieder zur Besinnung kommt, sich indes niemals wieder vollständig erholt und 1482 gestorben ist.

In seinem 1872 entstandenen Bild Der Wahnsinn des Hugo van der Goes hat der belgische Historienmaler Émile Wauters den mentalen Zusammenbruch des Malermönchs frei nach Gaspar Ofhuys effektvoll in Szene gesetzt. Die dramatische Darstellung des außer Rand und Band Geratenen, den geistliche Musik besänftigen soll, steht am Beginn der Ausstellung in Brügge und wird auch in Berlin zu sehen sein. Der ehemalige Krankensaal des aus dem 12. Jahrhundert stammenden Hospitals, der durch blaue Vorhänge in mehrere Ausstellungszonen unterteilt ist, erweist sich als sinnfälliges Ambiente für diese Darstellung eines gesundheitlich zerrütteten Künstlers.

Wendet man sich vom Wauters-Wahnsinn zum wenige Schritte entfernten Marientod, erlebt man ein Kontrastprogramm: Von den Aposteln, die sich zum Abschied rund um die Gottesmutter versammelt haben, geht zurückhaltend artikulierter Kummer aus, nicht jedoch der Ausbruch von exaltiertem Schmerz. Ja, die gesamte Szene, die im Übrigen nicht auf der Bibel basiert, sondern auf der mittelalterlichen „Legenda Aurea“ (einer Sammlung von Heiligenlegenden), kommt ohne Dramatik und Pathos im Angesicht des Todes daher. Das gilt für Maria auf dem Sterbebett und die sie umringenden Jünger ebenso wie für den von Engeln begleiteten Jesus, der die Seele seiner Mutter im Himmel in Empfang nimmt. Aufschlussreich erscheinen diese Verinnerlichung und Zurückhaltung bei der Schilderung der Figuren vor allem im Vergleich mit der weit augenfälligeren Bildpräsenz in seinem Hauptwerk, dem Portinari-Altar in Florenz, sowie bei den Berliner Tafeln Geburt Christi und Anbetung der Könige.

Gleichwohl haben manche Kunsthistoriker versucht, in der Mimik und Gestik einzelner Apostelfiguren einen Hinweis auf jenen Wahn des Künstlers zu finden, der von Ofhuys überliefert wurde. Doch der visuelle Befund gibt das nicht her: Ob sie die Hände in Verzweiflung oder zum Gebet ringen, ob sie eine Kerze anzünden oder den Blickkontakt mit dem Betrachter suchen – beim besten Willen lässt sich keine dieser mild-moderaten Figuren als verkappter Bote einer Geisteskrankheit identifizieren. Was hingegen bemerkenswert ist: Bei der Trauerarbeit handelt es sich nicht um ein gemeinsames Ritual. Vielmehr zeigt jeder der Apostel eine individuelle Reaktion, ist mit seiner Trauer auf sich selbst zurückgeworfen. So dient er „als potenzielles Identifikationsmodell, in das die Betrachter der Tafel ihre eigenen, von Trauer, Mitleid und Mitgefühl geprägten Reaktionen auf das dargestellte Ereignis projizieren können“, wie es im Katalog der Berliner Ausstellung heißt.

Im kirchenähnlichen Ambiente des Sint-Janshospitaals, das zu den bedeutendsten Zeugnissen der Backsteingotik in Belgien zählt, markiert der Marientod das Zentrum einer Präsentation, die jedoch – anders als es der Titel vermuten lässt – keine monografische Ausstellung ist. Neben diesem Herzstück der Brügger Schau ist nämlich nur ein einziges weiteres Werk zu sehen, das dem Maler unzweifelhaft zugeschrieben wird. Die Rede ist von der Tafel mit der hl. Genoveva vom sogenannten Wiener Diptychon aus dem Kunsthistorischen Museum Wien. Ursprünglich bildete sie die Rückseite einer Darstellung des Sündenfalls. Mit der fein wiedergegebenen Grisaille, beschränkt auf wenige Farbtöne, imitiert der Künstler eine Skulptur, die in einer Nische steht. Genoveva von Paris, unter anderem Schutzheilige der Genter Kerzenmacherzunft, hat sich in die Lektüre einer geistlichen Schrift vertieft. Dabei lässt sich die wackere Jungfrau und passionierte Beterin von dem Teufelchen an ihrer Seite nicht beirren.

Keine Ausstellung über Hugo van der Goes strebt das Musea Brugge also an; vielmehr erweitert die Brügger Schau „Den Tod vor Augen“ die Perspektive, indem sie die „Ars moriendi“ epochenübergreifend ins Visier nimmt. Die „Kunst des Sterbens“, die Vorbereitung auf einen guten Tod und den Übergang ins ewige Leben, solche Aspekte vertieft die Ausstellung in sechs Themenbereichen, die mit rund 70 Werken bestückt sind. Präsentiert werden zum einen Gemälde des 15. Jahrhunderts, Bilder von Albrecht Bouts, Petrus Christus, Hans Memling, Jan Provoost, Martin Schongauer und Geertgen tot Sint-Jans. Illustrierte Bücher, Texte und Skulpturen runden diesen historischen Part ab. Aus zeitgenössischer Warte kommentieren die „Ars moriendi“ per Videobotschaft fünf „Neue Meister“, tätig als Choreografen, Künstler, Regisseure und Schriftsteller. Sholeh Rezazadeh spricht über „Abschied“, Berlinde De Bruyckere über „Sinn“, Ilja Leonard Pfeijffer über „Maria“, Ivo Van Hove über „Glaubenserleben und visuelle Kultur“, Anne Teresa De Keersmaeker über „Virtuosität“.

Verbindet das Musea Brugge die niederländische Kunst und Kultur des späten 15. Jahrhunderts mit einem überzeitlichen Diskurs über Existenzielles, so konzentriert sich die Gemäldegalerie Berlin mit ihrer Präsentation zu Hugo van der Goes auf den Meister selbst und fragt nach den Wurzeln seiner Malerei: In der Genealogie der sogenannten „Flämischen Primitiven“, als deren Stammesväter Jan van Eyck und Rogier van der Weyden gelten, zählt Hugo zur zweiten Generation. Darüber hinaus untersuchen die Ausstellungsmacher Stephan Kemperdick und Erik Eising, welche Künstler ihrerseits von dem Maler beeinflusst wurden, den Albrecht Dürer noch 1520 als „großen Meister“ rühmte.

Die beiden Stars der Gemäldegalerie-Ausstellung, der Monforte-Altar mit der Anbetung der Könige (um 1470) und die Geburt Christi (um 1480), bestreiten ein Heimspiel am Kulturforum. Seinen Namen erhielt der Monforte-Altar aufgrund seiner Herkunft: Bevor das Altarbild, dessen Auszug beschnitten wurde, 1913 nach Berlin kam, befand es sich im Jesuitenkolleg der spanischen Stadt Monforte de Lemos. „Mit dieser Tafel verglichen, sind alle anderen Schöpfungen des Meisters mehr oder weniger Zeichnungen“, urteilte der Kunsthistoriker Max Friedländer. In der Tat kann man sich an diesem Werk nicht sattsehen: Exquisite Farbigkeit, Monumentalität und Wirklichkeitsfülle der Figuren, Detailreichtum der Hintergrundlandschaft und der im Vordergrund dargebotenen Stillleben mit Pflanzen und kostbaren Gegenständen, dies und vieles mehr gilt es zu entdecken und zu bewundern. In einer perspektivisch wiedergegebenen Tempelruine präsentiert Maria das Christuskind, dem die drei Könige mitsamt Gefolge ihre Reverenz erweisen. Im Jüngsten, der rechts die gesamte Bildhöhe ausfüllt, begegnen wir einer der frühesten Darstellungen eines Farbigen in der niederländischen Kunst.

Rund zehn Jahre später, also um 1480 setzen die Berliner Kuratoren die Geburt Christi an. Ungewöhnlich das breite Format, ungewöhnlich auch, wie die beiden Propheten am Rande einen Vorhang zur Seite ziehen, als wäre die Geburtsszene ein Bühnenstück. Herrschen im Zentrum, wo Maria, Josef und eine Schar von Engeln das Neugeborene verehren, edle Einfalt und stille Größe, so poltern die beiden Hirten links förmlich herein, um dem unerhörten Ereignis beizuwohnen. Großartig, wie lebensnah Hugo van der Goes diese beiden derben Gestalten mit ihrer Mischung aus Neugier und Frömmigkeit charakterisiert hat.

Wer einen umfassenden Eindruck von der außerordentlichen Malerei dieses flämischen Künstlers gewinnen will, sollte weder die Schau im Musea Brugge noch jene in der Gemäldegalerie Berlin verpassen. Das Sahnehäubchen allerdings wartet in den Uffizien in Florenz: Der Portinari-Altar, aus konservatorischen Gründen vom Reiseverkehr der Kunstwerke ausgeschlossen, hat unser Bild der Malerei des Hugo van der Goes stärker geprägt als jedes andere seiner raren Werke. Das Triptychon zeigt auf der Mitteltafel die Anbetung Jesu. Auf der linken Tafel erkennt man den Stifter, Tommaso Portinari, zwei seiner Söhne, sowie den Apostel Thomas und den heiligen Antonius; rechts erscheinen Portinaris Frau Maria Baroncelli, die Tochter Margarita sowie deren beiden Namenspatroninnen.

Portinari, der 1465–1477 das Brügger Bankhaus der Medici leitete, gab den Flügelaltar in Auftrag, um ihn in seiner Kapelle in der Kirche des Ospedale di Santa Maria Nuova in Florenz aufzustellen. Unterrichtet sind wir darüber durch den Künstlerbiografen Giorgio Vasari – weil es sich um das einzige dokumentarisch belegte Werk des Hugo van der Goes handelt, nimmt das um 1476/77 zu datierende Bild innerhalb des Œuvres eine Schlüsselposition ein. Von Brügge wurde das mächtige Triptychon 1483 nach Pisa verschifft und gelangte über den Arno nach Florenz. 16 Männer waren nötig, um es dort an seinen Bestimmungsort zu bringen. Rasch erwies sich der Altar als Exportschlager. Angesehene Renaissance-Künstler wie Domenico Ghirlandaio, Sandro Botticelli und Filippino Lippi pilgerten zur Portinari-Kapelle, um die malerischen Errungenschaften des Flamen zu bewundern und nachzuahmen. Ein Triumph, den Hugo van der Goes, der ein Jahr zuvor gestorben war, nicht mehr erleben durfte.


Auf einen Blick

Ausstellung „Den Tod vor Augen. Hugo van der Goes: Alter Meister, neue Blicke“

Bis 5. Februar 2023

Musea Brugge/Sint-Janshospitaal

Mariastraat 38 , 8000 Brugge, Belgien

Website: https://www.museabrugge.be/de/kalender/ausstellungen/den-tod-vor-augen

 

Ausstellung „Hugo van der Goes. Zwischen Schmerz und Seligkeit“

31. März 2023 bis 16. Juli 2023

Gemäldegalerie Berlin

Matthäikirchplatz, 10785 Berlin

Website: Internet: https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/hugo-van-der-goes/

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Das Sint-Janshospitaal gehört zu den 13 Standorten der Musea Brugge im belgischen Brügge. Bei dem Gebäude handelt es sich um eines der ältesten erhaltenen Krankenhausgebäuden Europas, dessen früheste Spuren aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammen. Hier finden sich u.a. Meisterwerke von Hans Memling und eine umfangreiche Sammlung von Kunstwerken und medizinischen Instrumenten, die über das historische Krankenhausleben berichten.

Foto: ©Inge Kinnet i.o.v. Musea Brugge

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