Porträt

Reichlich Licht im Museum unter Tage

Bochum feiert Ingeborg Lüscher mit der Retrospektive „Spuren vom Dasein“

Wer in einer Zeit groß geworden ist, da das Rauchen als durchweg gebilligte Sucht und Ritual allgegenwärtig war, den beschleichen beim Besuch der aktuellen Bochumer Ausstellung von Ingeborg Lüscher Déjà-vu-Gefühle. Im Museum unter Tage / Situation Kunst (für Max Imdahl), das der Künstlerin anlässlich ihres 85. Geburtstages eine Retrospektive ausrichtet, stößt man gleich mehrfach auf Zigarettenstummel in gehäufter Form. In den Verstummelungen der frühen 1970er-Jahre beispielsweise rücken die Objet trouvés massenhaft ins Bild. Auch einen Lebenslauf nehmen sie in Beschlag. Und in einem schönen Selbstporträt, dem aus mehreren Glasplatten zusammengefügten Glasbild von 1972, überlagern knapp 30 Zigarettenstummel das träumerische Schwarz-Weiß-Foto der Künstlerin (aufgenommen von Maren Heyne) und das Schema eines Horoskops.

Wie sich die Zeiten ändern: Ist die Zigarette als Droge und Gesundheitsgefahr heute ins gesellschaftliche Abseits verbannt, so sah Ingeborg Lüscher in den Kippen vor rund 50 Jahren, als das Rauchen ein Lifestyle-Elixier war, ein „Synonym für Lebens-Zeit“. Nicht zuletzt deshalb, weil „das Ein- und Ausatmen bei einer Zigarette jeweils eine kleine Spanne des Lebens zeigt“, wie die Künstlerin in einem Interview bemerkte. Tausende dieser Stummel sammelte die passionierte Raucherin, reinigte sie und ließ sie ausdünsten, bevor die Nikotin-Reliquien als Material ihrer Kunst in unterschiedlicher Form zum Einsatz kamen. „Was sie an den Stummeln fasziniert, ist ihr Potenzial, Erinnerungen zu speichern und Assoziationen auszulösen“, schreibt Silke von Berswordt-Wallrabe im Katalog. Heute steht man vor diesen verrunzelten Überbleibseln wie vor Fossilien aus einer sehr fernen Vergangenheit. Ohne die abgestandenen Kippen wäre Lüschers Glasbild schöner anzuschauen – aber weniger authentisch.

„Spuren vom Dasein. Ingeborg Lüscher – Werke seit 1968“, dieser Titel der Bochumer Ausstellung trifft ins Schwarze. Und das gilt nicht nur für die Werkgruppe der „Verstummelungen“. Überhaupt hat die Künstlerin, die 1936 als Ingeborg Löffler im sächsischen Freiberg geboren wurde und zunächst die Laufbahn der Schauspielerin einschlug, die Dinge und Konsumgüter, mit denen wir uns umgeben, so selbstverständlich und nahtlos in ihre Kunstwerke integriert, wie man es selten erlebt. Die Autodidaktin, die 1967 von Berlin ins Tessin übersiedelte und rasch Kontakt zu Künstlern aus dem Umkreis des Nouveau Réalisme fand, machte die Vielfalt zum Programm: Feuer und Schwefel, Erde, Sand und Asche, Seife und Klebstoff, Flusen und Textilien, Jute und Gehäkeltes – all das und noch viel mehr findet, wer die Arbeiten in Augenschein nimmt. Eine Materialerkundung der sinnlichen Art. Man spürt, dass da jemand am Werk ist, der voller Neugier auf die Welt zugeht, um sich anzueignen, was immer als Resonanzboden der eigenen Kunst taugt. Mitunter prallen Gegensätze aufeinander und finden sich in einer höheren Einheit aufgehoben. So verhält es sich mit der Paarung von Asche, Symbol der Dunkelheit, und Schwefel, im Werk von Lüscher Sinnbild des Lichts. Mit ihrer Vorliebe für alltägliche Materialien steht Ingeborg Lüscher der Arte Povera nahe. „Arm“, diese Eigenschaft jedoch will auf ihre Werke nicht passen – hier werden landläufige Dinge in kostbare Trouvaillen verwandelt.

Neben dem 85. Geburtstag der beneidenswert vitalen Künstlerin gibt es einen weiteren Aufhänger für die Präsentation im Museum unter Tage. Lüscher hat der Stiftung Situation Kunst einen Großteil ihres künstlerischen Nachlasses geschenkt. Und weil die Stiftung mit der Ruhr-Universität Bochum verbunden ist, können deren Kunstgeschichtsstudenten aus Primärquellen schöpfen, sollten sie sich wissenschaftlich mit Ingeborg Lüschers Werk oder verwandten Phänomenen befassen wollen. Auch am empfehlenswerten Katalog haben sie übrigens mitgewirkt.

Leben und Schaffen der Künstlerin bieten hervorragendes Anschauungsmaterial für angehende Wissenschaftler (und nicht nur für sie), war Ingeborg Lüscher doch wiederholt Zeugin jener Momente, in denen jüngere Kunstgeschichte geschrieben wurde: 1969 traf sie in New York Christo und Andy Warhol. Drei Jahre später nahm sie mit ihrer fotografischen Dokumentation des Schweizer Einsiedlers Armand Schulthess an der documenta 5 teil. In Kassel begegnete sie dem Leiter der d 5, Harald Szeemann. Der Beginn einer Liebesgeschichte, die erst 2005 endete, als der legendäre Ausstellungsmacher starb. Eine weitere documenta-Beteiligung (1992), zwei Einladungen zur Biennale di Venezia (1999 und 2001) sowie etliche Ausstellungen runden das Bild ab.

Jetzt also Bochum. Neben dem Museum unter Tage ist auch das Kunstmuseum Bochum im Boot. Dort wird eines von Ingeborg Lüschers Hauptwerken präsentiert: Das Bernsteinzimmer, 2001–2004 als phantasievolle und unorthodoxe Nachschöpfung des berühmten barocken Bernsteinzimmers in Szene gesetzt, und zwar aus 9000 Seifenstücken der Marke SOLE. Lüscher hatte diese Seife in einer Drogerie entdeckt, daran Gefallen gefunden und gekauft – erst später fand sie heraus, dass die hinterleuchteten SOLE-Stücke dem Licht eine ganz eigene Qualität geben. In der Künstlerin rief dieses Licht das Bild des gelbschimmernden Bernsteins hervor. Von hier führte die Gedankenverbindung zum sagenumwobenen Bernsteinzimmer. Dieser Prunkraum zierte seit dem frühen 18. Jahrhundert das Berliner Schloss, kam 1716 nach Sankt Petersburg, wurde im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht erbeutet und ist seit 1944 verschollen. Eine detailgetreue Rekonstruktion befindet sich seit 2003 im Katharinenpalast von Sankt Petersburg.

Ingeborg Lüschers wunderbare Wabenstruktur zieht den Betrachter in den Bann. Ein Werk aus einem Guss, eine ästhetische Wohlfühl-Oase mit 9000 kleinen Sonnen. „Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt“, lautet eine Zeile aus Herbert Grönemeyers „Bochum“-Song. Im Kunstmuseum Bochum hat Lüscher den Staub weggezaubert. Ähnlich unwiderstehlich ihre Rauminstallation Die Hängenden Gärten der Semiramis von 2005. Eine Kaskade aus gehäkeltem gelbem Kunststoff, der als Vogelschreckband Verwendung findet und sich hier über ein Holzgerüst abwärts windet. Unglaublich, welch sublime Wirkungen man mit ordinären Plastikbändern erzielen, wie aus Anorganischem ein pulsierender Organismus entstehen kann.

Wie so oft bei Ingeborg Lüscher entzündete ein Alltagserlebnis, das die meisten wohl nicht einmal registrieren würden, eine Kettenreaktion, an deren Ende eine raumgreifende Installation stand: Bei einer Autofahrt fielen ihr am Rande der Straße Forsythien-Sträucher auf, deren goldgelbe Blüten sich nach unten beugten. Damit assoziierte die Künstlerin die Hängenden Gärten der Semiramis. Diese terrassierte Gartenanlage in Babylon, der Legende nach von der altorientalischen Königin Semiramis in Auftrag gegeben, zählte zu den sieben Weltwundern der Antike. In Semiramis sieht die Künstlerin weibliche Schöpfungskraft verkörpert.

Ob es eine spezifisch „weibliche Kunst“ gibt, und anhand welcher Kriterien man sie definieren könnte, darüber mag man streiten. Wer die Bezugnahme auf Häkeln oder Hausarbeit als Beleg für „weibliche Kunst“ ansieht, offenbart eine Tendenz zum Schubladen-Denken. Dies vorausgeschickt, bezeichnet die Charakterisierung „feministische Kunst“ in Ingeborg Lüschers Schaffen nur einen Aspekt. Indes: Ihre frühen explosiven Feueraktionen oder das witzige Fußball-Video Fusion (1999–2001) könnte man mit Fug und Recht der männlichen Sphäre zuordnen, sofern man sich nicht entscheidet, solche Generalisierungen zu unterlassen, womit man der Wahrheit wohl am nächsten kommt.

Als „Mutter, Künstlerin und Geliebte“ artikuliert sich Lüscher in der Foto-Installation Wie ich beginne, die Welt zu erleben oder: Ich kenne den Sinn und die Worte, nur die Dinge sind über mir (1975–1979). 1975 wurde ihre Tochter Una geboren. Mit den 28 Aufnahmen, in der Form einer Pyramide strukturiert, unternahm die Künstlerin den Versuch, deren frühkindliche Perspektive nachzuempfinden. In sieben Reihen erscheinen Szenen des Alltags, darunter die Schuhe des Vaters, Harald Szeemann, Zimmerpflanzen, Kinderspielzeug sowie der Körper der Mutter selbst. 1981 entstand der Siebdruck Die Schwangere, basierend auf einem früheren Selbstporträt, das Lüscher mit der Polaroidkamera gemacht hat. Ein diffuses Spiegelbild, bei dem die Brüste und der geschwollene Bauch hervortreten.

Die Qualität dieser Arbeit besteht nicht zuletzt darin, dass sie Privates öffentlich macht, ohne dass sich der Betrachter wie ein Voyeur vorkommt. Eine Tendenz, die sich durch das gesamte Œuvre zieht. Die Bodeninstallation „Pesto Cottonese“ (1989–1999/2021) liefert dafür ein weiteres anschauliches Beispiel. Flusen aus dem Sieb ihres Wäschetrockners verwendete die Künstlerin als Rohstoff, mit dem verschiedene Kleidungsstücke als Flachware auf dem Boden ausgebreitet werden. Eine Spurensuche, inspiriert von der einstigen Tätigkeit von Bäuerinnen, die gewaschene Wäsche zum Trocknen auf der Wiese ausbreiteten.

Weniger intim, gleichwohl ganz privat die Fotoserie „Augen“ von 1998. Hierfür bat Ingeborg Lüscher elf Familienmitglieder, Freunde und Bekannte vor die Kamera. Jeder wird durch eine Art Diptychon mit zwei Details repräsentiert: links ein geschlossenes Augenlid, rechts ein offener Augenblick. In dieser polaren Anordnung mag man ein Sinnbild für Vita activa und Vita contemplativa sehen, für Weltzugewandtheit und Introspektion. Nicht zuletzt harmonieren die gelb-golden eingefärbten Augenpaare mit Lüschers Leitmotiv, dem Licht. Schon Goethe hat diese Korrespondenz angedeutet. In seinen „Zahmen Xenien“ schreibt er: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, / die Sonne könnt es nie erblicken. / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / wie könnt uns Göttliches entzücken?“ „Sonnenhaft“, das scheint geradezu ein ideales Wort, um Ingeborg Lüschers Kunst auf den Punkt zu bringen. In diesen trüben Zeiten ist ihre Kunst Balsam für den Sehsinn.


Auf einen Blick

Ausstellung: Spuren vom Dasein. Ingeborg Lüscher – Werke seit 1968

Ort: Museum unter Tage / Situation Kunst (für Max Imdahl), Nevelstraße 29c (im Parkgelände von Haus Weitmar), 44795 Bochum

Dauer: bis 18. April 2022

Internet: https://situation-kunst.de/situation-kunst

Öffnungszeiten:
Mittwoch bis Freitag 14:00–18:00 Uhr
Samstag, Sonntag, Feiertage 12:00–18:00 Uhr

Katalog
Spuren vom Dasein. Ingeborg Lüscher – Werke seit 1968, hrsg. von Silke von Berswordt-Wallrabe, Markus Heinzelmann, Eva Wruck sowie Studierenden im Fach der Kunstgeschichte, 184 S., 106 Abb., ISBN 9783941778177

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Profile

Ingeborg Lüscher wurde 1936 unter dem Familiennamen Löffler in Freiberg in Sachsen geboren. Nach Abschluss der Schauspielschule war sie Ensemblemitglied des Renaissance-Theaters Berlin und wirkte in mehreren Filmen mit. 1959 heiratete sie den Schweizer Farbpsychologen Max Lüscher. 1967 trennte sie sich von ihm, übersiedelte nach Tegna im Tessin und wendete sich als Autodidaktin der bildenden Kunst zu. 1972 lud Harald Szeemann sie zur Teilnahme an der documenta 5 in Kassel ein. Aus der Begegnung entwickelte sich eine bis zu Szeemanns Tod im Jahre 2005 währende Lebenspartnerschaft. 1975 wurde die gemeinsame Tochter Una Alja geboren. 1992 folgte eine zweite Einladung zur documenta, wo sie ein Konvolut ihrer Schwefelarbeiten zeigte. 1999 und 2001 Beteiligung an der Biennale von Venedig. 2011 erhielt Ingeborg Lüscher den Prix Meret Oppenheim des Schweizer Bundesamts für Kultur, die höchste künstlerische Auszeichnung der Schweiz.

[Foto: Claudia Dettmar]

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