Porträt

Raum für den Dialog

Horchen nach Identität, Tradition und Veränderung: der Düsseldorfer Künstler Ernst Hesse

Am Rande von Derendorf, mitten in Düsseldorf, ein riesiges Freigelände, dort wo früher der Schlachthof stand: Übrig geblieben sind einige hoch aufragende Gebäude. Die Gemäuer wirken verwittert, Rampen verengen den ungepflasterten Weg. Unterschiedliche Betriebe haben sich hier angesiedelt, eine Autowerkstatt, Rockbands proben hier. Wie ein Turm ragt ein Gebäude empor, in dem sich seit dreißig Jahren Künstlerateliers befinden. Ernst Hesse arbeitet hier schon von Anfang an. Eine Metallstiege führt von außen in den Bauch des Gebäudes. Hesses Arbeitsplatz findet sich gleich hinter dem Eingang und öffnet sich in die Weite des Raumes, Säulen strukturieren das offene Stockwerk. Im hinteren Bereich stehen die Gipsformen für den Guss und einige halbhohe Eisenplastiken, deren Flächen einen Hohlraum umfangen. Seit den 1980er-Jahren arbeitet Ernst Hesse mit verknappten, mitunter konstruktiv organisierten Formverläufen in immer neuen Verwandlungen, etwa auch in der Verwendung fernöstlicher oder, in jüngster Zeit, hebräischer Schriftzeichen. Mit der stillen Intensität seiner Plastiken wurde Hesses Werk schon frühzeitig bekannt und in Ausstellungen international gewürdigt.

Im Atelier trennt eine Glasfront zwei langgestreckte Räume ab, hier konzipiert der Düsseldorfer Künstler seine Skulpturen und realisiert seine autonomen Zeichnungen auf Papier und Leinwand. An einem eigenen großen Tisch finden die Besprechungen statt. Ernst Hesse verkörpert beides: den konzentrierten Bildhauer, der über seinen Entwürfen brütet und unabgelenkt mit schwer zu handhabenden Materialien arbeitet, und den Kommunikator, der den Austausch mit anderen Kulturen sucht und sich von ihnen anregen lässt. Der sich aber auch, was sein eigenes Werk betrifft, mit Technikern und Architekten Gedanken über die Produktion und die Platzierung der Skulpturen an öffentlichen Orten macht. Ein wichtiger Schritt dahin sind, so berichtet Ernst Hesse, provisorische 1:1-Modelle aus leichten Materialien.

Ernst Hesse, Porträt im Atelier, Foto: Ernst Hesse

Ernst Hesse, Porträt im Atelier
Foto: Ernst Hesse

Ich erinnere mich an die ersten Atelierbesuche Ende der 1990er-Jahre. Damals befanden sich hier, geschützt vor dem Staub, skulpturale Ensemble mit kleinen Objekten und alltäglichen Dingen in serieller Anordnung auf extra angefertigten Tischen und in Regalen und Vitrinen: Fähnchen, die an Konferenzen mit verschiedenen Verhandlungspartnern denken lassen, oder nach oben geöffnete steife Papiertüten oder Wein- und Wassergläser, die über ihre skulpturale Präsenz hinaus auf Grundbedingungen menschlicher Existenz und des Miteinander-Lebens weisen.

Schon da lag der wesentliche Impuls für das Werk von Ernst Hesse vor. Wichtig ist ihm die Gültigkeit und Verständlichkeit seiner Werke überall auf der Welt, in Verbindung mit einem tiefgründigen Bedeutungsspektrum. Wenn es einen Begriff, ja, eine Programmatik für sein so vielfältiges, für alle Medien offenes Werk gibt, dann ist es bis heute der des Dialogs. Bereits 1985–86 betitelte Hesse eine Werkgruppe Correspondencias. 1989 entstanden Werke unter dem gemeinsamen Titel Dialoge bzw. Dialog der Gegensätze. Hesse beschreibt und schafft Szenen der Kommunikation, die auf dem Aufeinandertreffen unterschiedlicher Erfahrungen beruhen. Er widmet sich den Lebensbedingungen uns ferner Kulturen, dies beinhaltet den respektvollen Umgang mit ihren Traditionen und handwerklichen Leistungen, die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und mit Bildung für alle Menschen, die Achtung der Natur, ihrer Einzigartigkeit und Schönheit. Schon vor Jahrzehnten hat Ernst Hesse den Eurozentrismus hinter sich gelassen.

Formen des Plastischen

Dialog betrifft folglich nicht nur die installative Präsentation verschiedener Elemente im Gegen- und Zueinander innerhalb der Skulpturen, sondern ebenso das, was es im allgemeinen auch meint: das Gespräch zwischen Menschen, das Erkennen des Gemeinsamen, aber auch des Eigenen im Verschiedenen, um voneinander zu erfahren und sich der eigenen Identität bewusst zu werden. Ernst Hesse ist ein Lernender, der seine Fragen in Kunst transzendiert. Skulptur nimmt dabei wahrhaft soziale Dimensionen an. Sie kann aus einem Tanz oder einem Gespräch bestehen und sich ebenso in einem Vortrag manifestieren. Seit 1989 hat Hesse teils im Auftrag der Goethe-Institute und in Zusammenarbeit mit Kunstakademien überall auf der Welt gemeinschaftliche Ausstellungen und Round-Table durchgeführt. Er ist in den fremden Ländern aber auch auf die Straße, in die Geschäfte, zu der Bevölkerung gegangen, hat sich nach ihrer Arbeit und ihrem Alltag erkundigt und sie und ihre Erzeugnisse in seine Projekte einbezogen. Er ist Initiator, Organisator, er diskutiert und sorgt dafür, dass nachgedacht aber auch gemeinsam gefeiert wird. Er bringt besonders Düsseldorfer Künstler auf Ausstellungen außerhalb unseres eurozentrischen Radius und lädt ebenso die Künstler aus mehr oder weniger fremden Kulturen zu Projekten nach Deutschland ein. Es ist eine beeindruckende Liste an Städten, in denen er bislang tätig war. Sie umfasst Los Angeles und San Francisco, Osaka, Izmir, Bangkok, Kuala Lumpur, Jakarta, Madras und Accra. Aber er hat sich in den letzten Jahren genauso bei der Integration der Flüchtlinge, die nach Düsseldorf gekommen sind, engagiert und mit den Kindern Kunstaktionen durchgeführt.

An der University Kuala Lumpur, Foto: Ernst Hesse

An der University Kuala Lumpur
Foto: Ernst Hesse

Ein weiteres Kapitel bilden die monologischen Schilderungen einer Episode aus dem Leben eines Anderen, die Ernst Hesse auf Video aufzeichnet: Er lässt seinen Gesprächspartnern, die aus ganz verschiedenen Berufen und Ländern stammen, dazu alle Zeit. Die Kamera laufe, sagt Ernst Hesse, und er höre einfach zu: am besten natürlich beim Interviewten daheim oder an seinem Arbeitsplatz. So entsteht ein Archiv in einer filmischen Einstellung. Sowieso, Zuhören ist unverzichtbarer Teil der Kommunikation und schließlich auch Teil des Werkes von Ernst Hesse. Das Zuhören entspricht vielleicht dem Abtasten der Oberflächen der Skulpturen mit den Augen.

Als Künstler ist Ernst Hesse zunächst einmal Bildhauer. Einen frühen, 1990 erschienenen Katalog hat er „Autonome und kollektive Skulpturen“ betitelt. Da steckt das Gemeinsame schon drin. Hesses universelle Sprache, die er immer wieder der Natur – den Früchten, exotischen Pflanzen, der Landschaft – entlehnt, ist grundsätzlich und elementar. Darin ist sie noch archaisch. Von daher ist es (über praktische Aspekte im öffentlichen Raum und über die Ästhetik der Oberflächen hinaus) konsequent, dass er bevorzugt mit Eisen und Bronze arbeitet. Die Modelle und Gussformen bestehen neben Gips mittlerweile auch aus Holz. Die Metalle kommen aus dem Inneren der Erde. Sie konservieren im Spektrum ihrer Farbtöne noch die Hitze, das Feuer und das Erkalten. Sie finden sich schon bei den alten Kulturen, überall auf der Welt. In ihrem erdigen Lokalton fügen sie sich in die Umgebung ein, ohne mit dieser zu konkurrieren oder Natur oder Architektur nachzuahmen. Bei Ernst Hesse interagieren sie, aber konkurrieren nicht.

An der Kunstakademie in Düsseldorf hat Hesse bei Erich Reusch in dessen Klasse für „Integration Bildende Kunst und Architektur“ studiert. Skulpturen von Ernst Hesse stehen im städtebaulichen Kontext komplexer Verkehrssituationen. Aber er hat sie auch mitten in die Natur gestellt, so wie in den letzten Monaten auf dem Kultur-Hof in Kaarst, den Helge Achenbach initiiert hat. Skulptur wird auch zum fokussierenden Rahmen, durch den man in die Ferne blickt und der damit Nähe und Ferne in Beziehung zueinander setzt: Für die Fußball-Weltmeisterschaft in Japan hat Hesse aus Corten-Stahl die Skulptur … globaler Rahmen für die Freundschaft (2000) in Fukuroi geschaffen. In die 3 m hohe und 5 m breite, auf einer Wiese vor einer Mauer stehende Stahlfläche ist ein Längsoval geschnitten. Oben und unten richten sich zwei verschieden kantige Formen in den Leerraum und bilden eine virtuelle Achse. Bei anderen Skulpturen ragen blockartige, zueinander versetzte Kreissegmente auf, ohne sich jedoch zu schließen, oder sie bauen sich aus mehreren übereinander platzierten Kegelsegmenten auf. Daneben hat Ernst Hesse Skulpturen geschaffen, die im kleinen, ja, winzigen, komprimierten Format bleiben. Sie trügen die Energie des ganzen Raumes in sich, sagt Ernst Hesse, und so ist es ja auch. Als in sich strukturierte Rund- oder Tropfenformen erinnern sie manchmal an Früchte. Oder sie erheben sich bauchig, verjüngen sich gleichmäßig und ähneln dann Gefäßen. Als Bronzen entwickeln sie ein reiches Spektrum schillernder Töne, aus Eisen mit der samtigen Textur tragen sie unmittelbar das Erdige kultischer Gegenstände.

Atelieransicht, Foto: Ernst Hesse

Atelieransicht
Foto: Ernst Hesse

Linien im Raum

Einige neuere, nun linear verschränkte Plastiken hat Hesse mit Lichtleisten versehen; bei Nacht sind einzelne Konturen sichtbar – ein Experiment, das verdeutlicht, wie sehr Hesse an Klarheit und Klärung gelegen ist. Er bringt Strukturen in eine Ordnung und lotet so auch den Ort ihrer Präsentation aus: Ist dies nicht auch von Anfang an bei seinen Bildern auf Leinwand und Papier der Fall? Auf dem neutralen, weißen Grund stehen Ellipsen und geometrische Formen aus schwarzen, blauen und roten Linien, die sich durchdringen und so einen plastischen Raum beschreiben. Sie erinnern mitunter an Vermessungen des Sternenhimmels, könnten Aufrisse im Gefüge stereometrischer Körper sein oder lassen an Entwürfe für Platzanlagen denken. Seit einigen Jahren setzt Hesse noch spiralige Verläufe in und über das zeichnerische Geschehen, das er nun am Computer und mit dessen Möglichkeiten – und mitunter mit der Farbigkeit ganzer Flächen – realisiert. Wieder andere Bilder bestehen aus einer einzigen monochromen Partie, die wie ein Scherenschnitt inmitten des unberührten Blattes wirkt und in ihrer Dichte als plastischer Körper weit weg im Gegenlicht auftritt. An der eigentlichen Malerei als künstlerischer Praxis störe ihn die Flächigkeit bei der Entstehung, sagt Ernst Hesse im Atelier beim Betrachten seiner so räumlich empfundenen Bilder.

Es gibt nichts mehr, wohin es sich zurückziehen lässt, 1988, Cor-ten-Stahl, Ehrenhof Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2020/ Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
Es gibt nichts mehr, wohin es sich zurückziehen lässt, 1988, Corten-Stahl, Ehrenhof Düsseldorf © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Wachstum), 2001, Bronze, H 375 cm, Pettenkoferstraße München © VG Bild-Kunst, Bonn 2020/ Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Wachstum), 2001, Bronze, H 375 cm, Pettenkoferstraße München © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
Ekmek, 1998–2002, Bronze, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
Ekmek, 1998–2002, Bronze © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Kanjis), 2017/19, Bronze © VG Bild-Kunst, Bonn 2020/ Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Kanjis), 2017/19, Bronze © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Hope, Fear & Responsibility), Atelieransicht 1989
O.T. (Hope, Fear & Responsibility), Atelieransicht 1989 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Space behind Space), 2004, Zeichenkohle, Ölpastell auf Papier, 100 x 130 cm, O.T. (Hope, Fear & Responsibility), Atelieransicht 1989, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
O.T. (Space behind Space), 2004, Zeichenkohle, Ölpastell auf Papier, 100 x 130 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
Dialoge, 2006, Silbergelatineabzug, überarbeitet, 30 x 40 cm, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse
Dialoge, 2006, Silbergelatineabzug, überarbeitet, 30 x 40 cm © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Ernst Hesse, Foto: Ernst Hesse

Was ist Plastik, Skulptur hingegen nicht alles: Bei Hesse sind es die Papiertüte, der Tisch, das Glas, überhaupt Gefäße, Brot und – landestypische, exotische – Früchte. Die Artischocke etwa ist ein Sujet seiner Fotoarbeiten. Diese sind s/w, aber die Bearbeitung im Entwicklungsprozess voller schillernder Töne. Tropfen der Entwicklerflüssigkeit und partielle Unschärfen verleihen den Fotoabzügen eine geradezu mythische Präsenz: Sie laden die Früchte mit der Bedeutung auf, die sie tatsächlich besitzen. Sie gehören zu den Grundnahrungsmitteln wie Wasser und Reis, auf die Hesse ebenfalls in Werkgruppen eingeht.

Mit der gleichen Intensität widmet er sich seit langem auch der Gestalt des Brotes. Man kann sagen, er sammelt dessen Formen. Er sucht die Laibe überall auf der Welt, gebacken von ortsansässigen Bäckern oft in Familientraditionen, und forscht so nach ihrer Verbreitung, aber auch ihrer Form und befragt, wie es zu ihr kommt. Neben Fotoarbeiten gießt Hesse einzelne dieser Brote in Eisen und in Bronze ab. Eine Ausstellung im Deutschen Brotmuseum in Ulm hat vor einigen Jahren verdeutlicht, wie sehr sich die gebackenen Brote von Landstrich zu Landstrich unterscheiden. Die Handarbeit bleibt ihnen eingeschrieben und damit die Einzigartigkeit auch. Wir denken an das Grundnahrungsmittel, das überall auf der Welt das Leben vom Kind bis zum Greis begleitet. An das Brotbrechen im biblischen, aber auch allgemeinen Sinne: als Anlass für das gemeinsame friedvolle Essen. An die Weizenfelder. Und wir sehen nun in den gebackenen und davon abgegossenen Broten das Handliche und Monolithische, das Berührte, aber plötzlich Unberührbare. Genau dieses Paradoxon wirft Hesse auf: Als Bronze werden sie materiell vielleicht kostbar, aber zu essen sind sie nicht mehr. Ist es nicht auch mit vielem anderen in unserer Gesellschaft so?

 

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Profile

Ernst Hesse wurde 1949 in Düsseldorf geboren. Hier hat er von 1976 bis 1981 an der Kunstakademie Düsseldorf studiert. Seine Metallplastiken stehen u.a. in Düsseldorf, München, Viersen und in Japan. Wichtige Einzelausstellungen fanden in Kiel, Kleve, Düsseldorf, Osaka, Izmir, Kuala Lumpur, New Delhi und Jakarta statt. Daneben hat er selbst Ausstellungen auf der ganzen Welt kuratiert. Ernst Hesse lebt und arbeitet in Düsseldorf.

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