Interview

Michelle Bird: „Wie eine Nomadin“

Michelle Bird ist gebürtige Amerikanerin, zieht jedoch seit 1990 durch die Welt. Ihre Kunst ist daher beeinflusst durch die USA, Indien, Indonesien, Europa und nicht zuletzt Island, ihre derzeitige Wahlheimat. Im Interview spricht Bird über die Lust auf Neues und ihren ganz eigenen Stil.

boesner: Schon Ihre regelmäßigen Wohnortwechsel – Sie haben in den USA, den Niederlanden, Indien, Indonesien, der Schweiz und nun Island Zeit verbracht – deuten an, dass Sie immer auf der Suche nach Gegensätzen, nach Neuem sind. Woher kommt dieses Bedürfnis?

Michelle Bird: Ich fühle mich wie eine Nomadin. Wenn ich mich in einem Zug oder Flugzeug aufhalte oder auf dem Weg von einem Ort zum anderen bin, dann überkommt mich große Aufregung, dann fühle ich mich lebendig. Für viele meiner Vorfahren war das Reisen ein Teil ihres Überlebenskampfes. Ich frage mich, was sie gefühlt haben, als sie auf der Flucht waren. Meine Eltern haben sich früh getrennt, ich bin dann bei einer berufstätigen Mutter aufgewachsen und wurde praktisch zur Unabhängigkeit gezwungen. Ich habe als Kind viele Dinge allein erlebt, große Entscheidungen zu treffen gehörte dazu. Für meine Freunde gibt und gab es sehr viel mehr Gründe, zu Hause zu bleiben oder irgendwann dorthin zurückzukehren. Was mich besonders reizt, sind kleine und abgelegene Orte auf der Welt. Ich mag es, fokussiert zu sein – und das fällt in der Einsamkeit natürlich viel leichter. Mir gefällt auch der Lerneffekt, der sich ergibt, wenn man sich auf Neues einlassen und einstellen muss. Obwohl es mir überraschenderweise gelingt, mich an fast allen Orten gleich zu Hause zu fühlen. Es sind immer kleine Siege, wenn man neue Sprachen lernt und sich eine neue Heimat einrichtet.

boesner: In einem Interview haben Sie sich vor einiger Zeit sehr positiv über die fehlende Arroganz der Isländer geäußert. Im Rest Europas und der Welt dagegen sei sie sehr verbreitet. Inwiefern empfinden Sie Arroganz als störend?

Bird: Arroganz und Schubladendenken setzen für mich unnötige Grenzen. Stören ist das falsche Wort, ich schaffe es eigentlich ganz gut, mich davon nicht beeinflussen zu lassen. Aber natürlich bekommt man auf alles, was man tut, viele verschiedene Reaktionen. Eine typische Antwort in Island ist: „Oh toll, das hat hier noch gefehlt, vielen Dank!“ In den Niederlanden wurde ich oft als „schwierige Freundin“ bezeichnet und musste mir Vorträge anhören. In der Schweiz war ein neidisches „Warum macht die das und nicht wir?“ eine häufige Reaktion. Solche Sachen können der Entfaltung des Potentials im Weg stehen.

boesner: Alle diese Gegensätzlichkeiten ihrer jeweiligen Umgebung: Inwieweit kommen sie in Ihrer Kunst zum Ausdruck?

„Island macht mich sprachlos.“

Bird: Meine Umgebung hat einen ganz direkten Einfluss auf meinen Level des Glücks. Wenn ich mich gut fühle, kann ich mich umso besser öffnen und mich auf das konzentrieren, was um mich herum passiert. Auf einer Insel wie Island gehe ich mit den vorhandenen Materialien noch pragmatischer um und ich schätze die Dinge mehr, die ich vorfinde. Die unberührte Landschaft auf Island macht mich sprachlos, ich versuche eine Art Koexistenz mit dieser göttlichen Natur zu porträtieren. Die Szenen, die ich male, mögen manchmal wie ausgeschmückte Bilder mit traumähnlichen Elementen wirken. Tatsächlich sind sie aber reale Begegnungen mit der Natur. Im Gegensatz dazu hatte mein Atelier in der Schweiz nicht diese Offenheit und die Aussicht auf grüne Wiesen, Hügel Flüsse oder Wasserfälle. Mein Arbeitsplatz war 88 Quadratmeter groß und hatte fünf Meter hohe Decken. Dort lagen die Fenster so hoch, dass ich beim Durchschauen direkt in den Himmel geblickt habe. Diese Umstände waren der ideale Nährboden für einen tiefen Fokus und innere Reisen. Meine Umgebung hat also einen sehr direkten Einfluss auf meine Arbeit, genauso wie übrigens meine jeweiligen Beziehungen zu Menschen. Es gab eine Zeit, in der mir das Leben viel abverlangt hat. In dieser Phase habe ich riesige Tafeln gemalt, wie Fenster zu himmlischen Sphären, mit pompösen Bildern und pulsierenden Farben. Für mich ist das Malen ein Ort, an dem ich mir die Welt zurechtlegen kann.

boesner: Sie haben auch bereits mit den unterschiedlichsten Materialien gearbeitet. Ist auch das ein Ergebnis Ihres jeweiligen Aufenthaltsorts? Wie sind Sie zum Beispiel auf Jute als Malgrund gekommen?

Copyright: Michelle Bird
Copyright: Michelle Bird
Copyright: Michelle Bird
Copyright: Michelle Bird

Bird: Ach, in Sachen Materialien habe ich doch höchstens an der Oberfläche gekratzt. Malen und Zeichnen sind gute Wege für mich, um mich frei und fließend ausdrücken zu können. Die Eigenschaften der Jute führen einfach zu einem ganz anderen Malerlebnis als bei einer Leinwand. Jedes Material hat seine eigenen Qualitäten und ist für bestimmte Einsätze geeignet.

boesner: Wenn man Artikel über Sie oder Interviews mit Ihnen liest, kommen Sie als sehr offen und fast spirituell rüber. Kombiniert man Spiritualität und Ihre Heimat San Francisco, landet man unweigerlich bei Flower-Power-Bewegung und den Hippies. Hat Sie das, möglicherweise über Ihre Eltern, beeinflusst?

Bird: Wow, so wirke ich? Mir wurde auch schon gesagt, ich sei viel zu vernünftig (lacht). Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich mehr oder weniger spirituell bin als jeder andere. Allerdings führt mein Beruf natürlich fast unweigerlich dazu, dass man viel über die Essenz des Seins nachdenkt. Wenn Sie meine Eltern ansprechen: Die waren eigentlich ziemlich normal – wenn man die Wellen an Sex, Drogen und Kulten bedenkt, die während meiner Kindheit über Kalifornien gerollt sind. Oakland, Berkeley und San Francisco sind wie ein Strudel für Ideen, verschiedenste Kulturen und Religionen. Wenn man dort aufwächst, lernt man früh viele verschiedene Dinge kennen und schätzen. Es gibt so viel Verrücktes und Extremes, alles bewegt sich dort so schnell: Mein Verständnis davon, was normal ist, ist daher nicht immer deckungsgleich mit dem, was andere Menschen so bezeichnen würden.

boesner: Wenn die Einschätzung Ihres Charakters auch nur annähernd korrekt ist: Dann haben Sie doch den perfekten Nachnamen, oder?

Bird: Ich liebe es, ein Vogel zu sein!

boesner: Wenn wir für einen Moment in diesem Bild bleiben können: Fühlen Sie sich manchmal wie in einem Käfig?

Bird: In der Tat, durch meine eigenen Ängste. „Befreie dich von allem, was die Freiheit deines Geistes einschränkt“, war und ist mein Lebensmotto.

boesner: Sie haben unter anderem Ihren Umzug nach Europa als „Flucht“ bezeichnet. Warum?

Bird: Als ich die USA verlassen habe, bin ich vor dem Druck geflüchtet, die Träume von jemand anderem verwirklichen zu müssen. Wissen Sie, meine Mutter hat sehr hart gearbeitet, um mit Ihrer Designfirma etwas zu erreichen. Ich habe es geliebt, mit ihr und für sie zu arbeiten, dennoch wollte ich nicht für ihre Träume zuständig sein. Ich wollte meine eigenen Träume und Leidenschaften verfolgen.

boesner: Womit wir wieder bei Ihrer künstlerischen Arbeit wären. Sie haben einmal gesagt, dass Sie niemals zu Musik malen, weil Sie tiefer in sich selbst eintauchen wollen. Kommt die ganze Inspiration für Ihre Werke also von innen?

Bird: Nein, das trifft es nicht ganz. Der Instinkt zu malen und der Fokus darauf kommen von innen. Inspirieren lasse ich mich aber von allem.

Sigursteinn and Anna, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Samuele, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Logi, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Kata, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Jökull, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Halldor, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Freya, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Asta, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Aslaug, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird
Anna, The Good Folks of Borgarnes, 2014, Öl auf recycelter Leinwand Copyright: Michelle Bird

boesner: Dieser introspektive Ansatz scheint im Wiederspruch zu stehen zu dem, was Sie vor allem jetzt auf Island machen: nämlich die gemeinsame Arbeit mit einem anderen Künstler an einem Werk.

Bird: Ich würde sagen, mein eigenes Lernen wird befeuert, wenn ich neue Dinge ausprobiere. Mit anderen zu wachsen und die dynamische Einzigartigkeit zu entdecken, die man zusammen hat, ist total spannend für mich. Da sehe ich keinen Unterschied zu Musikern, die gemeinsam spielen und sich gegenseitig inspirieren. Für mich ist das kein Widerspruch.

boesner: Eine fruchtbare Zusammenarbeit mit einem anderen Künstler hat sich für Sie schon vor vielen Jahren ergeben: Anfang des neuen Jahrtausends war Anton Martineau in Amsterdam Ihr Mentor. Was hat Ihnen die Zeit mit diesem Zeitgenossen der CoBrA-Gruppe bedeutet?

Bird: Anton hat mir beigebracht, wie man sich auf das Wesentliche konzentriert, dass man sein Material kennen muss und dass es wichtig ist zu wissen, was die eigene Kunst von der anderer Maler unterscheidet – sei es ein Pinselstrich oder wie ich mich in Relation zum Universum sehe. Von ihm habe ich gelernt, auf meine Leinwand wie auf einen Geliebten einzugehen und die Antworten kommen zu lassen, anstatt sie zu erzwingen, furchtlos zu sein und zu akzeptieren, dass das Leben eine ordentliche Portion Verrücktheit erfordert. Anton ist ein toller Lehrer, seine Führung hat mich weiter gebracht, als ich je für möglich gehalten hätte.

„Ich lege mich ungern fest.“

boesner: Ihre Arbeiten umfassen auf der einen Seite viele abstrakte Bilder und auf der anderen Seite eine ganze Reihe figürlicher Werke. Worin liegt für Sie der Unterschied und was bewegt Sie, das eine oder das andere zu malen?

Bird: Abstrakt beziehungsweise figürlich sind für mich eigentlich nur Begriffe und eine Frage der Wahrnehmung. Manchmal abstrahieren wir konkrete Bilder sehr stark, manchmal können wir in abstrakten Bildern konkrete Formen entdecken. Es hängt viel damit zusammen, wo man sich in Relation zum Werk befindet und wie man es betrachtet. Ich lege mich da ungern fest, zuletzt habe ich beides sehr stark vermischt. In der Schweiz habe ich überwiegend Abstraktionen der Natur gemalt. Für Porträts fehlte mir die Inspiration, in Indien und Island war beziehungsweise ist das ganz anders. Ob ich Porträts male oder nicht, liegt zu einem Großteil daran, wie die Menschen ihr Leben leben.

boesner: Ihre abstrakte Kunst strotzt nur so vor Farben- und Lebensfreude. Ist sie eher ein Beleg für Ihren eigenen Charakter im Hier und Jetzt oder spiegelt sie das wieder, was Sie erleben oder in Ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben?

Bird: Beides. Ich bin schon ein extremer Optimist, entsprechend lege ich mir meine Welt zurecht. Gleichzeitig benutze ich praktisch alle Farben und ja, das kommt wahrscheinlich auch von der Farbpracht, der ich mein ganzes Leben ausgesetzt war.

Michelle Bird in ihrem ehemaligen Atelier in Winterthur. Die Amerikanerin öffnete für boesner.tv ihre Türen und ließ sich bei der Arbeit beobachten.

Die Vulkaninsel Island ist für Michelle Bird ein Quell der Inspiration. Copyright: Samuele Rosso

boesner: Mit Schwarz scheinen Sie dagegen in Ihren abstrakten Werken fast gar nicht zu arbeiten. Gibt es dafür einen Grund?

Bird: Das mag so erscheinen. Aber eigentlich fange ich bei meinen Bildern oft mit einem sehr dunklen Untergrund aus Berliner Blau, Schwarz und Gebranntem Siena an. Das ist eine wunderbare Basis, um die Farben richtig knallen zu lassen!

boesner: Ihre figürlichen Bilder sind im Gegensatz dazu oftmals sehr dunkel – in punkto Farbe, aber nicht zwangsläufig bezüglich der Atmosphäre. Warum diese Unterscheidung?

Bird: Das war gar keine bewusste Entscheidung. Zum Glück habe ich von Anton gelernt, dass es völlig okay ist, ein fröhlicher Maler zu sein. Vorher hing ich diesem lächerlichen Glauben an, dass ein Künstler leiden muss.

boesner: Ihre Selbstporträts wiederum sind zum Teil sehr freizügig und provokativ. Und es gibt sehr viele. Durch die Kunstgeschichte hindurch gibt und gab es unzählige Gründe, warum Künstler sich selbst gemalt haben. Welcher ist Ihrer?

Bird: Meine Selbstporträts sind Erinnerungen an mich selbst. Manchmal bin ich sauer auf mich selbst und will herausfinden warum. Wenn ich mir diese Bilder an die Wand hänge, dienen Sie mir als Warnung, denselben Fehler nicht zwei Mal zu machen.

boesner: Sie beschreiben Ihren Stil als sehr intuitiv und spontan. Fällt es Ihnen manchmal schwer zu entscheiden, ob ein Bild fertig ist? Können Sie erklären, wodurch ein Bild vollständig ist?

Bird: Damit habe ich keine Probleme. Normalerweise gebe ich einem Bild sehr viel Zeit und Raum, irgendwann teilt es mir quasi mit, dass es fertig ist. Das Wichtigste ist, das Bild ständig zu beobachten.

boesner: Sie haben relativ früh das Segeln für sich entdeckt. Wie kam es dazu?

Bird: Mit dem Segeln habe ich in meiner Teenagerzeit angefangen und damals viele Abenteuer mit Freunden erlebt, die in der Hinsicht schon viel erfahrener waren. Mein Stiefvater hat mich ermutigt, einen Segelschein zu machen. Ich bin das mit großer Begeisterung angegangen und war gezwungen, eine ganze Menge neuer Sachen zu lernen. Schon mit 19 Jahren konnte ich mir ein eigenes Boot leisten, einen elf Meter langen Crocker Ketch. Den habe ich über die nächsten drei Jahre mit meinem Stiefvater renoviert, ehe er verstorben ist. Danach bin ich nie wieder gesegelt. Er war ein alter Seebär aus Puget Sound (Meerenge bei Seattle, Anm. d. Red.) und kannte unzählige Geschichten von Segelabenteuern, mit denen er mich verzaubert hat.

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Profile

Bird ist 1965 in San Francisco geboren, verbrachte ihre Jugend an der US-amerikanischen Westküste und auf Hawaii. Ihr Vater ist Maler, Fotograf, Politiker mongolisch-chinesischer Abstammung, ihre Mutter Designerin mit nordeuropäischen Wurzeln. 1990 verlässt Bird die USA und zieht nach Amsterdam, danach verbringt sie Zeit in Indien, Indonesien, Schweden, Rumänien.

Bei ihrer Rückkehr nach Amsterdam bietet sich Anton Martineau als Mentor an, der sie begleitet und entscheidend prägt. 2004 zieht sie nach Winterthur in der Schweiz, neun Jahre später weiter nach Island. Bird kann internationale Ausstellungen und Anerkennung vorweisen.

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