Eine analytisch-sinnliche Annäherung
Wir sind umgeben von Farben. Farbe erzeugt aus sich selbst heraus Wirkungen, sie kann aber auch einen bestimmten Zweck verfolgen. Wir empfinden sie einerseits als selbstverständlich, auf der anderen Seite sind wir fasziniert von ihrer Schönheit. Farbe als Farbe ist Chemie, Physik, Optik, Biologie. Der Mensch gewinnt aus Mineralien, Pflanzen und tierischen Produkten seit Jahrtausenden Farbmittel. Das zeigen die bisher ältesten bekannten Höhlenmalereien, von denen man vermutet, dass sie vor über 30.000 Jahren entstanden sind. Damals standen offenbar nur ein paar Ockertöne zur Verfügung. Später kamen Kreide und Holzkohle hinzu. Im alten Ägypten konnte man künstlich Blau- und Grünpigmente herstellen und für die Bemalung antiker Skulpturen kamen in Griechenland und dem Römischen Reich Rot und Gelb dazu.
Angewandte Farben waren zu dieser Zeit bereits symbolträchtig aufgeladen. Sie galten als Kostbarkeit, als wertvolles Besitztum, waren Tausch- und Handelsware. Viele kulturelle Errungenschaften der Menschheit wie die Malerei, die Textilgestaltung, die materielle Kultur, weltliche und religiöse Rituale, Kommunikation fußen auf den Möglichkeiten der Farbgestaltung und Deutung. Im Laufe der Zeit erfanden die Menschen immer neue Möglichkeiten, Farbenmittel herzustellen. Manche verschwanden auch wieder von der Farbpalette, etwa weil sie giftig waren. Insgesamt erweiterte sich das Farbspektrum beständig. Allein in den letzten zirka hundert Jahren kamen viele neue Farben dazu, beispielsweise Titanweiß (1925), Manganblau (1935) oder das tiefdunkle Ventablack (2014). Ohne dieses wechselnde Spektrum der Farben und ihrer Bedeutungen wäre Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich ist, nicht denkbar gewesen.
„Das Farbenbuch“ trägt diesem komplexen Phänomen Rechnung: Dreieinhalb Kilo, Großformat. Ein Statement. Für den 2022 im alataverlag erschienenen Buchklotz haben sich drei Farbbesessene zusammengeschlossen: Der Maler und Farbforscher Stefan Muntwyler, der Chemiker und Spezialist für Pigmentanalysen Juraj Lipscher sowie der Grafiker und Fachmann für Farbumsetzung Hanspeter Schneider. Nach acht Jahren ist aus der intensiven Zusammenarbeit ein aufschlussreiches Fachbuch entstanden. Die weite Palette der Farbmittel ist darin nach chemischen Kriterien gegliedert, der Einbezug von über 30 Gemälden und anderen Kunstwerken (z.B. Fresken) aus allen Epochen der Malerei verknüpft die Welt der Farbmittel direkt mit der Kunstgeschichte. Das vermittelt nicht nur sehr anschaulich historisches und theoretisches Wissen, sondern auch Praxisbezug.
Ursprünglich wurden Farben fast ausschließlich aus der Natur geschöpft: Mineralien, Pflanzen und tierische Stoffe waren die materielle Basis zur Herstellung von Pigmenten und Farbstoffen. Durch tiefgreifende Entwicklungen in der Chemie wurden natürliche Farben seit dem 18. Jahrhundert immer mehr durch synthetisch hergestellte ersetzt, sodass heutzutage eine fast unbegrenzte Zahl an Pigmenten und Farbstoffen zur Verfügung steht. Das Farbbuch stellt eine reichhaltige Auswahl davon vor: Alle Farbmittel, die historisch von Bedeutung waren, sind dargestellt, von der Ur- und Frühgeschichte bis hin zur Gegenwart. Es wird mit einem Kompendium eröffnet. 367 Pigmente und Farbstoffe werden mit Namen und Synonymen, mit ihrer chemischen Zusammensetzung und Formel vorgestellt, ebenso das Vorkommen, die Herstellung, Historisches, die Eigenschaften und Anwendungen. Um die unterschiedlichen Anmutungen vorstellen zu können, wurden 693 Farbmuster hergestellt sowie 78 Färbungen auf Wolle und Seide. Die systematische Ordnung der Pigmente und Farbstoffe richtet sich nach Herkunft und Entstehung. Auf diese Weise lassen sie sich in organische und anorganische Farbmittel unterteilen und zwischen natürlichen und synthetischen unterscheiden. Den Bindemitteln, einer Zeitachse der Pigmente, der historischen Farbstoff-Sammlung der TU Dresden und der Herstellung von Pigmenten im Labor sind zudem kürzere Abhandlungen gewidmet.
Welche Gemeinsamkeit teilen Leonardo da Vinci und Andy Warhol? Mit 17 Pigmentanalysen im anschließenden Kapitel stellt „Das Farbenbuch“ einen fundierten Praxisbezug zu den wichtigsten Epochen der Kunstgeschichte her. Juraj Lipscher hat die Auswahl der Gemälde und Wandmalereien, denen hier auf den Grund gegangen wird, kenntnisreich vorgenommen. Mit wissenschaftlicher Akribie werden die Malschichten optisch untersucht, dabei dringen Infrarotstrahlen in die Tiefe des Materials vor. Das Kapitel erweitert das Blickfeld, stellt Bezüge zur Kunstgeschichte her und legt detailliert dar, welche Farbmittel in einem bestimmten Zeitraum erhältlich waren und wie die Künstlerinnen und Künstler ihre Materialien eingesetzt haben. Selbstverständlich wird auch die Frage zu Beginn dieses Abschnitts wird beantwortet. Es folgt ein Kapitel mit 19 „Farbgeschichten“. Anschaulich, kenntnisreich und leicht nachvollziehbar geschrieben, vermittelt es Wissenswertes von den ersten Farben der Menschheit über Ägyptisch Blau und Grün bis zu DPP oder Ferrari-Rot. Ein Glossar beschließt das Buch. Dass so tiefgreifende und komplexe Informationen nicht allein von den drei Herausgebern umgesetzt werden können, versteht sich fast von selbst. An ihrer Seite hat ein interdisziplinäres Kollektiv aus Restauratoren, Chemikerinnen, Archäologen, Kuratorinnen, Architekten, Historikerinnen, Künstlern und Kulturwissenschaftlerinnen konzentrierte und fokussierte Beiträge geleistet.
Und dann ist da noch die Umsetzung. Heute werden Büchern echte Farbaufstriche nicht mehr beigegeben, weil das eine Publikation unerschwinglich teuer machen würde. Die Herausgeber haben sich daher für eine drucktechnische Wiedergabe der Farben entschieden. Das war nicht einfach, denn wenn man über Farben spricht, soll man sie auch sehen. Um aber Neapelgelb zitron, Neapelgelb historisch und Neapelgelb rötlich (in zwei Varianten) so drucken zu können, dass der Leser diese Unterschiede auch erkennt, ist ein Druckverfahren mit mehr als den üblichen vier oder fünf Farben notwendig. Hanspeter Schneider hat sich für einen Druck in CMYK plus sechs zusätzlicher Pantone-Farben entschieden, manche Bogen hat er mit bis zu 18 Farben bedrucken lassen. Das bedeutet vier Durchgänge, Millimeterarbeit und neben einer Unzahl von Fehldrucken erfordert es auch unvorstellbar viel Angleichen, Nachmessen, Überprüfen, viel Geduld und Präzision. Das Buch dokumentiert diese aufwendige Arbeit auf einer Doppelseite. Das Resultat der hohen Papier- und Druckqualität führt zu einer überdurchschnittlichen Farbtreue der abgebildeten Farbmuster und Kunstwerke. Dem Buch ist die Liebe anzumerken, mit der es hergestellt wurde, die Mühe und der Elan, die Kenntnis und der Sachverstand. Das gewichtige Werk ist ein Fachbuch für Maltechniker*innen, Restaurator*innen, an Maltechnik interessierte Studierende der Kunst wie der Kunstgeschichte sowie für Kunstschaffende.