Porträt

In der Gegenwart,
aus der Zeit gefallen

Die Malerin Simone Lucas

Ein Hauptwerk in der Malerei von Simone Lucas ist Kosmologhia (2013). Im großen Format, gemalt in Öl auf Leinwand, halten sich in einer weiten Raumkonstruktion mehrere Figuren an den Rändern eines zu ihren Füßen mit weißer Kreide gezeichneten quadratischen Labyrinths auf. Im Zentrum steht ein Junge mit einer Wünschelrute. Der malerische Duktus ist lapidar realistisch. Die Figuren werfen lange Schatten hinter sich. Der Bildraum selbst ist diffus weiß-grau gefasst. In der Sicht von schräg oben wirkt der Boden transparent und unfest wie eine Eisschicht und als würden stufige Flächen mit Abstand übereinander schweben. Und dann schließen sich ganz im Vordergrund Linien zur Zeichnung eines Drachen zusammen.

Kosmologhia, 2013, Öl auf Leinwand, 200 x 260 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Kosmologhia, 2013, Öl auf Leinwand, 200 x 260 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Das alles scheint sich in völliger Stille zu ereignen, die Figuren wirken in sich versunken und doch aufmerksam bei der Sache, vielleicht, so lässt der Wünschelrutengänger vermuten, wie in einer Séance, auch wenn der Titel auf das Universum, den Blick in den Himmel verweist. Ausgestellt war Kosmologhia erstmals im Frühjahr 2014 in der Galerie Pfab in Düsseldorf. Die Einladungskarte dazu fokussierte den Jungen im Zentrum als Bildausschnitt, betonte so die Konzentriertheit seines Auftritts in Pullover und Knickerbocker-Hosen. Die Atmosphäre und der Habitus verweisen auf vergangene Zeiten, sei es auf das frühe 20. Jahrhundert oder doch lediglich zurück auf eine Jugend, wie sie Simone Lucas erlebt haben könnte – oder, noch allgemeiner, auf Erinnerungen, wie Kindheit früher gewesen sein muss, überliefert in Erzählungen und verblichenen Bildern.

Simone Lucas im Atelier Foto: Archiv der Künstlerin

Simone Lucas im Atelier
Foto: Archiv der Künstlerin

Simone Lucas lebt und arbeitet in Neuss. Nachdem sich ihr Atelier viele Jahre in einer Industriehalle an der Peripherie von Düsseldorf befand, ist es mittlerweile unterm Dach des Wohnhauses untergebracht: ein kurzer Weg also, der dem Dranbleiben zugutekommt. Ihre Malerei findet in einem festen Rhythmus statt, auf der Grundlage von Fotografien, Zeichnungen und Skizzen, wobei sich das Geschehen zunehmend konkretisiert und dann im Malprozess wieder expressiv aufgelöst wird. Sven Kroner hat vor drei Jahren dieses Vorgehen in einem Gespräch mit Simone Lucas rekapituliert: „Plötzlich ergibt ein Ausschnitt aus einem übermalten Bild ein neues Bild im Bild, die Farbe reißt auf und ergibt Strukturen, im Grunde gibt es auf Deinen Bildern immer ein Wechselspiel zwischen den Oberflächen und der Dramaturgie, also Deinen Protagonisten, die bestimmte Dinge machen …“

Artistin, 2022, Öl auf Leinwand, 160 x 145 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Artistin, 2022, Öl auf Leinwand, 160 x 145 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Simone Lucas malt von Anfang an figürlich. Seit Mitte der 2000er-Jahre und mit der zunehmenden Feinheit der Figuren, die nun für sich stehen und handeln, laden sich die Bilder narrativ auf. Die Figuren kommen zugleich aus anderen Zeiten und Welten. Sie schaffen um sich herum Räumlichkeit und Weite und gehen aus ihrem Eigenleben heraus Beziehungen ein. Der Boden selbst ist häufig aufgewühlt, so als spiegelten sich in ihm die Nachdenklichkeit der Menschen und die Unendlichkeit des Universums wider. In anderen Bildern ist der Boden mit Marmorplatten getäfelt oder gibt mit Holzbrettern die Laufrichtung vor und steuert so auch das Sehen und Erfassen der Geschehnisse. Das Klassenzimmer mit den Schulkindern, die unter Anleitung schreiben, rechnen und lernen, etabliert sich im Werk von Simone Lucas als eine der Bühnen, auf denen sich die Choreografien weiter formieren. Das funktioniert auch deshalb, weil ihre Gemälde introvertierte Szenerien zeigen, die in der überschauend schweifenden Sicht, einem frontalen Gegenüber oder der zentralperspektivischen Konstruktion als Raum den Betrachter unmittelbar in ihren Bann ziehen. Dazu ist die Farbigkeit verhalten; Schattierungen überwiegend in Blau und Grün legen sich über die Darstellungen. Der Bildraum scheint den Betrachter nicht nur aufzunehmen, sondern sich auch hinter ihm zu schließen.

Leben, 2016, Öl uauf Leinwand, 220 x 220 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Leben, 2016, Öl auf Leinwand, 220 x 220 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Und doch malt Simone Lucas farbig und sogar bunt! Das trifft nicht nur auf einzelne Kleidungsstücke zu, vielmehr blitzen immer wieder sonnendurchflutete Farbfelder auf, sei es als helle Glasscheiben oder als abstrakte Raster an der Wand oder als Splitter von Farbe frei im Raum. Über ihren Beitrag zur Balance im Bildgeschehen und als Vergegenwärtigung hinaus teilen sie mit, dass das, was hier zu sehen ist, tatsächlich Illusion auf der Fläche und als solche Malerei mit Ölfarbe auf Leinwand ist. Beides passiert in diesen Gemälden: das Sich-Verlieren der Figuren in den eigenen Vorstellungswelten und die Evidenz ihrer innerbildlichen Faktizität für die Betrachter. Viele der Bilder ereignen sich in Zwischenbereichen, bereits die Bildtitel (Schläfer, Tagschlaf oder Den Tod zu Leben erwecken) geben das zu verstehen. Simone Lucas entwirft Genreszenen, deren Geschehnisse der Realität entgleiten. Nachdenken wird im Bildgeschehen anschaulich, da ist das Schreiben an der Schultafel oder das Lesen in einem aufgeschlagenen Buch, als gäbe es sonst nichts. Und dann tauchen die imaginierten Dinge selbst im Bild auf: als dicht bewaldete urbane Orte auf dem Boden oder als Planeten über den Häuptern. Dann wieder baut sich ein lineares Gewölk über den schlafenden und träumenden Kindern auf, welches noch mit den Farben ihrer Schlafanzüge und den Mustern der Bettwäsche verschmilzt.

Großer Weltentwurf, 2016, Öl auf Leinwand, 170 x 220 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Großer Weltentwurf, 2016, Öl auf Leinwand, 170 x 220 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Die Handlungsräume sind also das Klassenzimmer mit den Bänken, in denen die Schüler und Schülerinnen sitzen, davor die Lehrer und Lehrerinnen, die Bastelstube, das Studierzimmer mit dem Globus auf dem gefliesten Boden, der durch die offene Tür in ein nachfolgendes Zimmer führt. Überwiegend handelt es sich um Räume des Lernens und Erfahrens, des Forschens und Vertiefens, der Aneignung. Simone Lucas befragt die Rolle der Erde im Universum, den Fortschritt und die Genese der Menschheit. Dazu fasziniert sie der Blick in die Sterne, die sich genauso – die Erde mit ihren Gesetzen der Schwerkraft ist eine Kugel – unter den Füßen befinden. Ihre Figuren sind so gekleidet, als kämen sie aus vergangenen Zeiten – was sie im Übrigen zeitlos werden lässt – und das deckt sich mit den zahlreichen Hinweisen und Referenzen an die Pioniertaten in den Naturwissenschaften und deren Geschichte, an die Astrophysik und deren Forschungen in früheren Jahrhunderten, die Simone Lucas in ihren Bildern auf die Wand, in eine verblendete Fensterscheibe oder auf eine Schultafel geschrieben hat. So heißt ein Bild 15 Parsec, das ist ein astronomisches Längenmaß für undenkbar große Distanzen.

The Study/ Das Arbeitszimmer, 2021, Öl auf Leinwand, 140 x 180 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

The Study / Das Arbeitszimmer, 2021, Öl auf Leinwand, 140 x 180 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Schließlich lässt sie die vertrauten Dimensionen verrücken und hebelt dazu die zu erwartende Logik aus. In einem Bild hat ein heranwachsender Junge den Boden unter den Füßen verlassen und sich zwischen den Stamm und die Äste eines Apfelbaumes eingenistet, der, über die ganze Höhe des Bildformats, allzu kurz im Stamm, aber mit seiner Breite und der Krone doch riesig wirkt. Unter dem Baum muten die Häuser mit ihren spitzen Giebeln ebenso, für sich empfunden, skulptural und groß an. Sie sind großzügig in der Landschaft verteilt, bleiben aber gegenüber dem Jungen und dem Baum winzig, als wäre dies eine Szene aus Gullivers Reisen. Aber vielleicht handelt es sich vielmehr um die erträumte Welt, wie sie sich Heinrich von Kleists Prinz von Homburg vorstellt, die sich der Junge aus erhöhter Position ausdenkt. Und dann hilft wieder die Naturwissenschaft, sich der Gesetze unseres Lebens und des Zusammenwirkens von Wachheit und Traum, Wirklichkeit und Einbildung bewusst zu werden. Es ist konsequent, dass Simone Lucas die britische Mathematikerin Ada Lovelace, die im 19. Jahrhundert revolutionäre Vorarbeiten für die Informatik leistete und in der Gesellschaft den Zwiespalt zu ihrer Rolle als Frau und Mutter aushalten musste, zu ihren Idolen zählt.

In ihrer Ausstellung in der Neuen Galerie Gladbeck im Juni/Juli 2021 hat sie den Stammbaum des Lebens nach Darwin auf die lange Wand im Lesesaal gezeichnet. Über den einzelnen Ästen hängen kleine Holztafeln, die jeweils ein Tier oder Tierwesen, teils verschmolzen mit einer menschlichen Figur zeigen. Ob sie auch schon früher Vögel gemalt habe? Ja, natürlich, immer wieder, sagt Simone Lucas: Die Natur ist in vielen ihrer Bilder Teil der Ereignisse. Interieur und Landschaft gehen nahtlos ineinander über, die Tiere nehmen merkwürdige Formen und Farbkombinationen an, die Menschen reiten sogar auf ihnen. Das Surreale ist der Normalzustand dieser Menagerien. Kein Wunder, dass die so fein gezeichnete Heuschrecke in ihrem Bild Grasshoppers Dream (2020) nun selbst Visionen einer riesenhaften Präsenz im Zimmer auslöst.

Ursa Major, 2013, Öl auf Leinwand, 220 x 260 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Ursa Major, 2013, Öl auf Leinwand, 220 x 260 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Mit Ursa Major hat Simone Lucas bereits 2013 ein Bild gemalt, das, sozusagen als Pendant zu Kosmologhia, ein lichthelles räumliches Kontinuum vor Augen führt. Aber nun tritt ein spielerischer Aspekt an Stelle der mystischen Konnotation. Erneut treten Kinder auf. Mit ihren kurzen Hosen und Faltenröcken sind sie auf einer Scheibe rund um deren Zentrum herum angeordnet. Ein Junge hält mit lässiger Geste einen Ast, der nun auf der Erde aufliegt. An seiner Spitze ruht jetzt eine farbige Murmel, vereinzelt finden sich weitere Glaskugeln, deren plastisches Volumen durch die Schatten modelliert wird. Auch die anderen Kinder, in der Betrachterpose die Arme auf dem Rücken, sind in dieses Spiel auf der Erde vertieft. Die Kreise dort stehen für die Planetenbahnen, deren Namen mit fließender Handschaft notiert sind. Und die große Bärin? Die Umrisszeichnung, die im Rücken der Kinder schwebt, formuliert das Sternbild am Nordhimmel aus. Die physikalische Welt ist in ein anschauliches Bild übersetzt. Dabei geht es auch um das grundsätzliche Vermögen der Malerei, unermesslichen Raum zu imaginieren. Im Gemälde Die Schläfer (2008) wiederum steht eine Frau, die Haare zum Zopf zusammengebunden und schwarz gekleidet, als Rückenfigur vor einer Schulklasse. Die Kinder sind in verwischtem Weiß oder rein als weiße Konturen notiert und rücken dadurch und durch die perspektivisch zusammenlaufenden Holzbalken weit auf Abstand. Umso mehr dominiert die Rückenfigur, unterstrichen durch die erhobene Hand, die sich gegen die Rückseite eines Papierbogens drückt, sodass dieser nicht nach vorne kippt, also die Malerei dort bleibt, wo sie auch herstammt: in der Fläche. Die Fantasie hat ihren Ort. Die Frau davor aber wird zur Regisseurin und vermittelt zwischen dem Realraum und dem Gemälde.

Weltall, 2016, Öl auf Leinwand, 180 x 220 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin BottländerWeltall, 2016, Öl auf Leinwand, 180 x 220 cm © Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Weltall, 2016, Öl auf Leinwand, 180 x 220 cm
© Simone Lucas, Foto: Wendelin Bottländer

Simone Lucas sprach bei ihrer Einführung zur Ausstellung in Gladbeck in Bezug auf die Leinwandfläche von den „vier Ecken, in denen alles passieren kann“. Dazu schöpft sie aus der Geschichte der Malerei mit ihren Stilen, den wechselnden Aufgaben und Darstellungsweisen zwischen Realismus und Abstraktion und der Ungebundenheit von jedem Gegenstand, aber auch der Rückkehr zu diesem. Ihre Bilder öffnen Fenster in die Vergangenheit und zu dem ungelenkten und gelenkten Unterbewusstsein, zu den verspielten Gedanken. Zur eigenen Rolle als Frau. Ihr Porträt ist verschiedentlich in die Gemälde eingebaut, eben auch in Die Schläfer. Und dann wird erst recht klar, dass es hier, ausgehend von den eigenen Erfahrungen, subtil um gesellschaftliche, soziale Fragestellungen geht, um ein Sich-Zurechtfinden in unserer hochentwickelten, oft virtuellen, fordernden und von extremen Widersprüchen geprägten Zeit. Ja, die Bilder handeln von unserem Dasein in der Gegenwart: dem Umgang mit dem Wissen, der persönlichen und kollektiven Überlieferung, schon unserem immensen Schatz an Märchen. Dabei sind wir, umzingelt von einer Flut an Informationen, auf der Suche nach Identität an einem persönlichen Rückzugsort: auch dort im vorsichtigen Umgang mit der Erde, mit der Natur, aber genauso dem Nächsten und mit der Wirklichkeit der Gedanken, Träume und Utopien.

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Profile

Simone Lucas wurde 1973 in Neuss, zwischen Köln und Düsseldorf, geboren, wo sie heute auch lebt und arbeitet. Sie hat an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und bei Dieter Krieg als Meisterschülerin abgeschlossen. Sie hatte Einzelausstellungen u.a. 2009 in der Jack Tilton Gallery in New York, 2014 im Stadtmuseum Weilheim und 2021 in der Neuen Galerie Gladbeck, im Museum Bensheim und der Galerie der Stadt Backnang. Im Frühjahr 2023 stellt sie im Mannheimer Kunstverein und, gemeinsam mit Sven Kroner, in der Neuen Galerie im Haus Beda aus. Sie wird von den Galerien Rupert Pfab in Düsseldorf, Knecht und Burster in Karlsruhe und Martin Mertens in Berlin vertreten.

www.galeriepfab.de

www.simonelucas.de

Foto: Archiv der Künstlerin

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