Das ist ein Sonderthema

Hintergrund

„Keim aller Möglichkeiten“

 

 

„… wenn die Verwertung eines Kunstwerks für ‚praktische Zwecke‘ nicht mehr
zweckmäßig erscheint, gewinnt das Kunstwerk seinen vollen Wert wieder.“¹
Kasimir Malewitsch

Im Sommer 1913 schuf der ukrainische Künstler und Hauptvertreter der Russischen Avantgarde, Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch (1879–1935), im damals finnischen Uusikirkko das Bühnenbild und die Kostüme für die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“. Die am 3. Dezember 1913 in Sankt Petersburg uraufgeführte Oper komponierte Michael Matjuschin nach dem Libretto des Dichters Alexej Krutschonych.

Das konsequent von Gegenstandsbezügen befreite und auf einfachste geometrische Formen reduzierte „Schwarze Quadrat“ malte Malewitsch zum ersten Mal auf den Bühnenvorhang für diese Oper. In einem Brief an Matjuschin bemerkt er diesbezüglich: „Der Vorhang trägt ein schwarzes Quadrat – den Keim aller Möglichkeiten –, es erlangt bei seiner Entwicklung eine gewaltige Kraft.“²

1914/15 malte Malewitsch das „Schwarze Quadrat auf weißem Grund“. Das Gemälde markiert wie kein zweites den Übergang zur Moderne und ist längst zum Schlüsselwerk der abstrakten Malerei avanciert.

Die Reaktionen auf das heute zu den wichtigsten Bildern des 20. Jahrhunderts zählende „Schwarze Quadrat“ waren alles andere als rücksichtsvoll. Das Viereck auf weißem Grund sperrte sich den Sehgewohnheiten der Ausstellungsbesucher auf so radikale Weise, dass bald von Scharlatanerie, von einer „Invasion der Rüpel in der Kultur“ (Dmitri Mereschkowski), ja von dem „aller-, allerabgefeimtesten Trick in der Jahrmarktsbude der allerneusten Kunst“ (so der Kunsthistoriker Leonti Nikolajewitsch Benois) die Rede war.

Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, 1914–1915, Öl auf Leinwand, 79,6 x 79,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau

Schwarzes Quadrat auf weißem Grund, 1914–1915, Öl auf Leinwand, 79,6 x 79,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau

Das Verlassen der Welt des Willens und der Vorstellung

Wie Malewitsch, der zunächst realistisch im Stile Cézannes und van Goghs gemalt hatte, in seinem Buch „Die gegenstandslose Welt“ über seinen Schritt von der gegenständlichen zur gegenstandslosen Malerei bemerkt: „Der Aufstieg zu den gegenstandslosen Höhen der Kunst ist mühselig und voller Qualen … aber dennoch beglückend. Das Gewohnte bleibt immer weiter und weiter zurück … Immer tiefer und tiefer versinken die Umrisse des Gegenständlichen; und so geht es Schritt um Schritt, bis schließlich die Welt der gegenständlichen Begriffe – ‚alles was wir geliebt hatten – und wovon wir lebten‘ unsichtbar wird.“³

Auch ihm selbst fiel die radikale Infragestellung, das Überbordwerfen aller Dinge und Kategorien, an denen wir uns gemeinhin orientieren, nicht leicht. In seinem oben erwähnten Buch bekennt er: „Auch mich erfüllte eine Art Scheu bis zur Angst, als es hieß, ‚die Welt des Willens und der Vorstellung‘ zu verlassen, in der ich gelebt und geschaffen hatte und an deren Tatsächlichkeit ich geglaubt hatte.“⁴

Befreiende Gegenstandslosigkeit

In der Einführung zu der Ausstellung: „Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch“, die 2007 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen war, heißt es: „Gerade die paradoxe Verknüpfung zwischen der radikalen Erneuerung der Malerei durch das schwarze Quadrat einerseits mit seiner geistes- und religionsgeschichtlichen Herkunft aus der altehrwürdigen Ikonenmalerei andererseits, ermöglicht die unterschiedlichsten Interpretationen und umformenden Aneignungen dieser Ikone der Moderne.“⁵

Im Folgenden sollen die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten dieser „Ikone der Moderne“ nicht weiter ausgelotet werden. Vielmehr wird beobachtet, was passiert, wenn man sich jeglicher gedanklicher Interpretation bewusst enthält: Wie wirkt das Bild, wenn man es tatsächlich anschaut und auf sich wirken lässt? Was geschieht, wenn man sich ihm vorbehaltlos aussetzt und seine Augen darauf gerichtet hält? Lässt sich auch heute noch „das beglückende Gefühl der befreienden Gegenstandslosigkeit“ (Malewitsch)⁶ empfinden?

In sich und für sich bestehen können

Der erste Blick auf das Gemälde erlaubt eine sofortige begriffliche Einordnung der viereckigen, schwarz ausgemalten Fläche als Quadrat, das von einem weiß gemalten Rand umgeben ist. Unwillkürlich stellt sich die Frage: „Warum noch einen zweiten Blick riskieren, wenn schon auf den ersten Blick klar ist, worum es sich hier handelt?“

Wer sich – der sofortigen begrifflichen Bestimmbarkeit zum Trotz – dazu entschließt, das Gemälde wirklich anzuschauen und genauer zu betrachten, wird schnell bemerken, dass das Viereck seinem Titel zum Trotz keinem exakten Quadrat entspricht und auch die Seiten nicht ganz parallel zueinander verlaufen. Wer seine Augen in der Mitte des Bildes ruhen lässt, kann darüber hinaus beobachten, wie schon nach kurzer Zeit die zunächst schwarze Bildfläche ihre eindeutige Färbung verliert und das schwarze Quadrat sich aufzulösen beginnt, indem sich das Weiß des Randes über das Schwarz schiebt und dieses aufzuhellen beginnt. Wer nach längerer Betrachtung die Augen schließt oder auf eine weiße Wand richtet, wird das Gegenbild sehen können, ein hell schimmerndes weißes Quadrat auf schwarzem Grund.

Doch welcher Blick bzw. welches Bild ist nun das gültige? Das, was wir sehen, oder das, was wir wiedererkennen?

Parallel zu den im Betrachtungsprozess am Bild beobachtbaren Phänomenen können auch im Betrachter bestimmte Wirkungen bemerkbar werden. So fesselt kein bestimmter Gegenstand seine Aufmerksamkeit und lenkt sie auf einen bestimmten Punkt. Auch trüben keine Assoziationen an bestimmte Gegenstände den Blick. Wem es gelingt, im Anschauen „die Welt der gegenständlichen Begriffe“ hinter sich zu lassen und selbst den Nullpunkt der Gegenstandslosigkeit zu durchschreiten, dem eröffnet das Bild die Chance, zu einer Welt voller Leben und Veränderung vorzudringen, wie sie bereits anfänglich beschrieben wurde. Denn, wie Malewitsch bemerkt, will die Kunst „nicht mehr im Dienste des Staates und der Religion stehen, sie will nicht mehr die Sittengeschichte illustrieren, sie will nichts mehr von dem Gegenstande als solchem wissen und glaubt […] in sich und für sich bestehen zu können.“⁷

 


¹ Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, Bauhausbuch 11, Hrsg. Hans M. Wingler, Mainz/Berlin 1980, S. 66.

² K. S. Malewitsch. Brief an M. W. Matjuschin Mai 1915. In: Kasimir Malewitsch. Künstler und Theoretiker. Weingarten 1991, S. 105.

³ Ebd.

⁴ Ebd.

⁵ http://www.art-perfect.de/das-schwarze-quadrat-hamburger-kunsthalle.htm

⁶ Ebd.

⁷ Kasimir Malewitsch, Die gegenstandslose Welt, Bauhausbuch 11, Hrsg. Hans M. Wingler, Mainz/Berlin 1980, S. 72.

0 Kommentare
Kommentare einblenden

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Das ist ein Sonderthema

Kolumne

Im Quadrat