Die bildgewaltigen Rauminstallationen von Patricia Lambertus
Wohl jedem, der zum ersten Mal ins Bremer Atelier von Patricia Lambertus kommt, dürfte ein überraschtes „Oh!“ entschlüpfen. Wenn auch der Arbeitstisch mit Papieren, Büchern und großen Computerbildschirmen so oder ähnlich in manch anderer künstlerischen Arbeitsstätte zu finden ist, so ist doch der weite Ausblick über ein riesiges Hafenbecken, der sich aus dem oberen Stockwerk des alten Industriegebäudes bietet, mindestens besonders (bis schlechthin begeisternd). Besonders, wenn sich auch noch die herrliche Sonne des Frühlingstages im tiefen Blau des Wassers spiegelt. Eine perfekte Idylle, oder? Nicht so ganz – und damit sind wir auch schon bei der Kunst, die hier entsteht. Das nächste „Oh!“: Was ist denn das nur für eine seltsame Kaminumrandung, die da mitten im Raum prangt? Anderthalb Meter breit, mit üppig vergoldeten Voluten und Zierstäben rechts und links geschmückt, aber nur einen Zentimeter tief … Es ist das flache Bild einer Kaminumrandung, ein sorgfältig silhouettierter Cutout, der durch Holzlatten auf der Rückseite Stabilität bekommt.
Entdeckungen in der Mediengeschichte
Patricia Lambertus baut Bilder im Raum, flache Bilder, die reale Räumlichkeit vortäuschen und, vor Ort montiert, tatsächliche, begehbare Räume verändern. Den Ausgangspunkt ihres künstlerischen Weges bildete ein Studium der Malerei und der Möglichkeiten, mit ihren Mitteln in der Fläche Räumlichkeit vorzutäuschen. Aber so richtig auf den Geschmack kam Patricia Lambertus nicht beim Ausklügeln der dabei anzuwendenden Verfahren, stattdessen zog es sie in die Grauzonen zwischen echtem und vorgetäuschtem Raum. Dafür ging sie zurück in die Kunstgeschichte, oder genauer gesagt, in die Mediengeschichte. Sie entdeckte bei ihrer Recherche vor allem zwei Verfahren, die sie faszinierten. Da war das frühe Massenmedium Panorama, das seit etwa 1800 seinem Publikum den Besuch zeitlich oder räumlich entfernter Orte erlaubte. Man konnte sich hier in die Zuschauermenge einer Königskrönung versetzen lassen, als Teilnehmer einer Polarexpedition fühlen oder dem Verlauf einer historischen Schlacht folgen. Das funktionierte so: Rings um den Zuschauer war eine bemalte Leinwand aufgespannt (der Zugang erfolgte von unterhalb), die Landschaft und Geschehen zeigte. Um die Illusion zu perfektionieren, waren im Vordergrund reale Gegenstände (Gebüsch, Kanonen oder Puppen) so arrangiert, dass sie den Übergang zum gemalten Hintergrund möglichst verdeckten. Was „echt“ und was „nicht echt“ war, überschnitt sich. Noch älter das zweite Medium: Die Landschaftstapete des 18. Jahrhunderts bekleidete, wie Tapeten es gewöhnlich tun, die Wände eines Raums. Aber anders als üblich, erfreuten in diesem Fall keine bloßen Muster den Schönheitssinn, sondern längs über die Wände hin zog sich (aufgeteilt in zahlreiche Bahnen) der Blick in eine landschaftliche Szenerie. Gerne, in diesem Zeitalter der Begeisterung für alles Exotische, eine chinesische etwa. Das Phantasie-China oder -Sumatra, das sich auf den Wänden des adeligen Salons abrollte, ließ die hier servierten, nicht minder exotischen Getränke wie Tee oder Schokolade noch einmal echter schmecken. Die überaus aufwendigen und raffinierten Druckprozesse mit buchstäblich Hunderten von Modeln machten freilich die Landschaftstapete zum kostspieligen Luxusprodukt.
Fast forward in unsere Gegenwart: Inzwischen ist, nach langen Jahren des funktionalistischen Darbens – weniger war mehr – die Tapete wieder als Schmuck in den Wohnungen angekommen: Beste Voraussetzungen also, die hoch originelle künstlerische Adaption des Mediums durch Patricia Lambertus zu schätzen! Die Künstlerin liebt, ganz anti-minimalistisch, den barocken Überschwang der Dekoration. Aber ihre Raumbilder, wie sie sie nennt, sind alles andere als Raumschmuck, zumindest so, wie man diesen Begriff gewöhnlich versteht. Sie sind, bei all ihrer überwältigenden (und begeisternden) Energie, durchaus, nun ja, auch manchmal etwas ungemütlich. Oder, wie einer ihrer Ausstellungstitel (von 2019) lautete: „Trouble in Paradise“! Wohl wahr … So fühlte sich 2021 der Ausstellungsbesucher des Bremer Gerhard Marcks Hauses, kaum hatte er die Tür des hübschen, seitlich stehenden Pavillons geöffnet, unversehens nach Italien versetzt: mürb abgeblätterte Wandfarben in Ocker und Rot, der eingangs erwähnte Prunkkamin, prächtige Portieren über Fliesenboden im Schachbrettmuster, Säulen und marmorne Architrave, rundbogige Galerien und Baluster, die den Blick auf Stadt und Bucht rahmen. Und, certo!, ein sanft blauer Himmel über allem. Aber halt, dieses besondere Rot, die Friese voller Eroten, die zierlichen Arabesken auf den Wänden, das ist doch Pompeji! Und richtig, da sehen wir den Vulkan schon leise qualmen, da hinten über der Bucht.
Je weiter man sich in die imaginären Räume von Lambertus‘ Zweitausendjahrfern einsinken lässt, umso auffälliger die Hinweise, dass hier nichts, aber auch gar nichts in Ordnung ist: Zwischen den zarten Wolken schweben merkwürdige Kuben am Himmel, vermummte Sturmtrupps besetzen Plätze, fantastische Zwitterwesen, angetan mit Flecktarn unterm Hirschgeweih, bilden das Pendant zur antiken Göttin (die wiederum eine Verwandlung der draußen vor dem Gebäude stehenden Marcks’schen Skulptur ist). Um die Ebenen noch weiter zu verschleifen, ganz nach Art der historischen Panoramen, stehen drinnen im Vordergrund reale Säulen (allerdings aus dem Dekobedarf), lässig behängt mit Tarnnetzen.
Oszillierende Welten der Schönheit wie vagen Bedrohung baut die Künstlerin auf. Es ist eine ungemein erzählfreudige Kunst, welche die Grenzen des realen Raums ebenso auflöst wie die des augenblicklichen Moments, voll unzähliger, oft kaum entzifferbarer Bezüge zu Kunstgeschichte und Geschichte. Die Offenheit ist eine ganz wesentliche Qualität hier, es geht eher um Stimmungen als um in sich schlüssige Narrationen. Die räumlichen wie zeitlichen Elemente „erzählen von Brüchen und zeigen einen Zustand vor oder nach einem Umbruch“, wie die Künstlerin selbst sagt. „Natur dringt vereinzelt in den Raum ein – nicht als Hoffnung, sondern als weiteres Zeichen der Überlagerung. Der Raum trägt Narben.“
Finstere Zukünfte
Für solche Ansätze, im Bildnerischen wie Literarischen (und nicht zuletzt auch im Filmischen), hat sich der Begriff der Dystopie eingebürgert, eine Art von Anti-Utopie, bei der die gängigen utopischen Verheißungen wie Gerechtigkeit, Frieden, Glück etc. ins blanke Gegenteil verkehrt sind. Ist die Utopie durch Ordnung gekennzeichnet, so ist die Dystopie prinzipiell chaotisch, Untergang und Verfall dräuen allenthalben. Patricia Lambertus schwingt sich nun allerdings nicht auf zur negativen Prophetin – Orwells „1984“ oder Huxleys „Brave New World“ wären da Beispiele –, sondern spielt mit ihren theatralischen Bild- und Rauminszenierungen durchaus lustvoll Fragmente möglicher (auch finsterer) Zukünfte durch. Neben dem kritischen Aspekt steht für die Künstlerin (die auch persönlich alles andere als einen finsteren Eindruck macht!) immer die Freude an der Schönheit, am Reichtum der so überraschenden, so disparaten bildlichen Fundstücke. Diese sind Teil eines immensen (wohlsortierten) Bildarchivs und werden am Rechner in zunehmend detaillierteren Lagen übereinandergeschichtet.
Nach dem Vorabausdruck kleinerer Versionen (für die Probe in verkleinerten Raummodellen) steht die Umsetzung in die Papierbahnen des Großformats an, was eine Spezialfirma besorgt. Neben den im Digitaldruck erstellten Tapetenbahnen finden sich auf einer typischen Lambertus’schen Materialliste originelle Zutaten wie beispielsweise Vorhänge, goldene Kordeln, Lampen, Aschenbecher, Kleiderhaken, Lampen, künstliche Pflanzen und künstliche Tiere, manchmal auch ausgestopfte, sowie, nicht zu vergessen, die südafrikanische Rinderpeitsche … Bei ihrer mehrdimensionalen Bildstrategie – Überwältigungsästhetik wäre da wohl nicht zu viel gesagt – bleibt aber auffällig, dass die Künstlerin sehr oft konkret auf die Geschichte des Ausstellungsortes eingeht, die bemerkenswerte Persönlichkeit der Dänenkönigin Christina in Zeven beispielsweise oder das Fischereiwesen in Varel. Gelegentlich aber gewinnt die Sache nachgerade prophetische Qualität: Die Massen merkwürdiger Objekte am Himmel der beschriebenen Arbeit in Bremen, Zweijahrtausendfern von 2021, lassen heute, doch etwas beklemmend, an die anfliegenden Drohnenschwärme im Ukrainekrieg denken …
Brüche und Umbrüche: Damit noch einmal zurück ins Bremer Atelier der Künstlerin. Der hier so faszinierende offene Blick über die Hafenszenerie mit ihren leer geräumten Kais verdankt sich natürlich (ökonomischen) Umbrüchen, erst das Verschwinden der ortsansässigen Hafenwirtschaft hat solche Arbeitsmöglichkeiten für Künstler eröffnet. Umbrüche bringen halt Möglichkeiten. Also nicht nur finster, die Zukunft …